Ein Standardwerk

Rezensiert von Wilhelm von Sternburg |
Der britische Historiker Richard J. Evans, Dozent in Cambridge, legt mit "Diktatur" seinen zweiten Teil über Hitlers Vernichtungskrieg vor. Er zeigt, dass Hitler und seine Gefolgsleute nicht als paranoide Außenseiter unter die Deutschen gefallen waren, sondern in breiten Volksschichten unzählige willige Helfer fanden.
In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche bemerkenswerte Einzelstudien zur Geschichte des Dritten Reiches entstanden, die uns den Fall eines hoch entwickelten Industriestaates in die Barbarei mit besonderem Nachdruck verdeutlicht haben. Es sind Monographien, die die deutschen Historiker endgültig von dem für die Frühjahre der Bundesrepublik zutreffenden Vorwurf freisprechen, sie würden mit Blick auf die Jahre der NS-Herrschaft die Vergangenheitsbewältigung vernachlässigen.

Die Rolle der Wehrmacht im von Deutschland ausgelösten Vernichtungskrieg im Osten, der millionenfache Mord am europäischen Judentum, der von ihm begleitete Raub des jüdischen Eigentums, an dem nicht nur die NS-Bürokratie, sondern ein ganzes Volk beteiligt war, die Verschleppung von Millionen Zwangsarbeitern, die Rolle der Justiz, der Medizin oder der Intellektuellen in diesen Terrorjahren – die Historiker haben hier inzwischen Pionierarbeit geleistet. Die Aufarbeitung der Geschichte des Dritten Reiches ist beispielhaft für eine Forschung geworden, die sich ohne nationale Verdrängung den Verbrechen der Vergangenheit stellt. Das war lange Zeit keineswegs selbstverständlich.

Die Gefahr einer nicht mehr zu überschauenden Literatur von Einzeldarstellungen liegt allerdings gelegentlich darin, dass sie die allumfassende verbrecherische Wirklichkeit, ohne die der NS-Totalitarismus nicht denkbar ist, in den Hintergrund drängt. Es sind in erster Linie die in den letzten Jahren erschienenen Gesamtdarstellungen britischer Historiker, die unseren Blick dafür wieder geschärft haben. Ian Kershaws große Hitler-Biographie hat da ebenso Furore gemacht, wie Michael Burleighs Beschreibung der "Zeit des Nationalsozialismus".

Sein Kollege Richard Evans, Dozent im altehrwürdigen Cambridge, wagt sich erneut an eine Gesamtbetrachtung des Dritten Reiches. Vor zwei Jahren erschien der erste umfangreiche Band, in dem Evans sich mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten beschäftigt. Nicht zuletzt seine kluge Beschreibung der neueren deutschen Geschichte, die nach der Euphorie der Bismarckschen Reichsgründung, der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und dem Drama der Weimarer Republik schließlich in das Dritte Reich einmündete, weist den Autor als souveränen Kenner dieser Vorgeschichte aus.

Hitler und seine radikalen Gefolgsleute waren – so stellt Evans zu Recht fest - nicht als paranoide Außenseiter unter die Deutschen gefallen, sondern ihre nationalistische Ideologie, ihre rassistischen Gewaltfantasien und ihre Weltmachtutopien stießen im konservativen, vom Trauma der Kriegsniederlage beherrschten Groß- und Kleinbürgertum auf überaus fruchtbaren Boden.

Hitler war nicht der Erfinder des Antisemitismus, des militaristischen Revanchedenkens oder des rassistisch untermauerten Antislawismus. Weil dies so war, konnte der Nationalsozialismus schließlich die letzte Übersteigerung deutscher Hybris verwirklichen.

Nun liegt die Fortsetzung – aufgeteilt in zwei Teilbänden - dieser großen Studie über das Dritte Reich in deutscher Übersetzung vor. Evans schildert darin die Durchsetzung der Diktatur, die sich zwischen 1933 und 1939 in Deutschland etablieren konnte. Herausragend ist in dieser Darstellung die immer wieder belegte These, dass der Nationalsozialismus ein Gewaltregime errichten konnte, das in der neueren Geschichte der europäischen Staaten ohne Beispiel war.

"Nicht nur Hitler persönlich, sondern auch die NS-Bewegung allgemein hatten für den Buchstaben des Gesetzes und die Institutionen des Staates nur Verachtung übrig. Von Anfang an standen sie mit ihren politischen Aktivitäten außerhalb des Gesetzes, und daran änderte sich auch nichts, als Hitler die Idee eines direkten Putsches als Weg zur Macht aufgegeben hatte. Für die Nationalsozialisten waren Gewalt und Wahlurnen komplementäre Werkzeuge der Macht, keine Alternativen. … Außerdem wurden allgemein anerkannte Rechtsnormen wie die Ächtung von Mord, Gewalttaten, Zerstörungen oder Diebstahl von den Nationalsozialisten von Anfang an ignoriert …"

Terror und Gewalt waren die entscheidenden Mittel der Machteroberung und Machterhaltung. Sie wirkten auf die Mehrheit der Deutschen erheblich stärker als die von Joseph Goebbels inszenierten Propagandafeldzüge oder die traumatischen Erinnerungen an die Weimarer Jahre. Evans erzählt da keine Neuigkeit, aber seine Darstellung weist doch auf eine Dimension der staatlichen Gewalt hin, die inzwischen angesichts der zahlreichen Deutungsversuche, wieso eine solche Diktatur in Deutschland möglich werden konnte, gelegentlich aus den Augen verloren wird.

Hitler und seine Nazi-Horden waren Kriminelle, die ihre Macht mit Terror, Mord, Täuschung und Lüge aufrechterhielten. Die Zerschlagung der Parteien und Gewerkschaften, die Zwangsvereinigung der Berufsverbände, die "Arisierung" des jüdischen Vermögens – raffgierige Erpressung und vor keiner Untat zurückschreckende Gewalt waren die Markenzeichen dieses Systems. "Der Terrorapparat des NS-Regimes", so schreibt Evans, "reichte bis in die kleinsten Einheiten des Alltagslebens und der täglichen Berufsarbeit."

"Je weiter das Dritte Reich vor uns in die Vergangenheit zurückweicht, desto schwieriger wird es für die Historiker, die in demokratischen politischen Systemen und Kulturen leben, in denen die individuellen Menschen- und Bürgerrechte geachtet werden, die notwendige Vorstellungskraft aufzubringen, um das Verhalten der Menschen in Staaten wie dem Dritten Reich zu verstehen, wo jedem Folter, Zuchthaus, Lager oder gar Tod drohte, der es wagen sollte, auch nur die leiseste Kritik am Regime und seinem Führer zu äußern."

So richtig diese These ist, Evans lässt keine Zweifel daran, dass der Nationalsozialismus in der Beamtenschaft, in der Wehrmacht, in den Kirchen oder generell in breiten Volksschichten unzählige willige Helfer fand. Terror war das eine, Konkurrenzneid, Habgier, Charakterlosigkeit, nationalistische Überheblichkeit, Sadismus der vielen Einzelnen das andere. "Der Terrorismus", so Evans, "war nur eine unter mehreren Herrschaftstechniken."

Dass die Herrschaft der Nationalsozialisten in einem Krieg einmünden musste, folgte nicht nur konsequent der Logik von Hitlers Denken und Wollen. Das Dritte Reich ging einem gewaltigen Staatsbankrott entgegen, der in der Logik Hitlers nur durch eine gigantische Kriegsbeute abzuwenden war. "Ich habe in meinem ganzen Leben immer va banque gespielt", erklärte Hitler im August 1939 am Vorabend des Überfalls auf Polen gegenüber Göring.

Auch Evans übersieht im übrigen nicht, dass das Dritte Reich trotz aller germanisch-deutscher Blut und Boden-Rückblicke und seiner Attacken auf die "entartete" zeitgenössische Kunst überaus aufgeschlossen der Moderne gegenüberstand. Aber er ordnet dieses Phänomen richtig ein.

"Modernität war im Denken der führenden Nationalsozialisten mit Konflikt und Krieg verknüpft. Der Sozialdarwinismus, das wissenschaftlich abgesicherte Prinzip, das einem Großteil des nationalsozialistischen Denkens zugrunde lag, unterstellte eine Welt, in der Völker und "Rassen" gegeneinander einen ewigen Kampf ums Überleben führten. … Jeder Bereich des geistigen und kulturellen Lebens wurde dem Zweck untergeordnet, das Denken der Menschen auf den Krieg vorzubereiten."

Auch in der Darstellung des Ausbaus der NS-Diktatur ist Evans wieder eine bemerkenswerte Mischung aus Struktur- und Politikgeschichte des Dritten Reiches gelungen. Man darf also auf den abschließenden Band über Hitlers Vernichtungskrieg gespannt sein. Schon jetzt kann aber von einem Standardwerk gesprochen werden, das Bestand haben wird.

Richard J. Evans: Das Dritte Reich
Band 2: Diktatur
Aus dem Englischen von Udo Rennert
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006