Ein Spaziergang durch die Seine-Metropole

Von Jochen Stöckmann · 30.06.2006
Um aus der Masse von Paris-Stadtführern herauszuragen, muss ein Autor etwas Besonderes bieten. Eric Hazan verbindet Historisches und Literarisches. Dabei lässt er bei seinem Spaziergang alte Stadtviertel und Dichter wie Baudelaire wieder auferstehen. Selbst die Vorstadt ist bei ihm erfüllt von fiktiven literarischen Gestalten.
Eric Hazan, Arzt und Verleger, versteht es, historischen Überblick und Detailwissen in einem Text, einer fein gewebten Textur zu verbinden, die er "Die Erfindung von Paris" nennt:

" Ein Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Wortes "Erfindung". Zum einen hat Paris selbst viel erfunden, nicht zuletzt die Barrikade – und es selbst erfunden worden: Durch eine Richtung der Literatur, eine bestimmte, nicht allzu lange Ära, die von Rousseau bis Breton, von Restif de la Bretonne bis Raymond Queneau reicht. "

Raymond Queneau, wer könnte das vergessen, war der Erfinder von "Zazie in der Metro", dieser frechen Göre, die als Landei ihre Hauptstadt mit der Untergrundbahn erkunden möchte – aber durch einen Streik der Metro gezwungen wird, auf der Straße die Augen offen zu halten.

Hazan verzichtet von vornherein auf Verkehrsmittel und "Kommunikationstechnik", genießt die Autonomie des Fußgängers und verlässt sich auf sein Gedächtnis als passionierter Leser. "Kein Schritt ist vergebens" heißt die Unterzeile seines Mosaiks, das aus tausenden von eigenen Alltagsbeobachtungen und erlesenen Zitaten zu einem Panorama zusammengefügt ist.

Das Kompositionsprinzip ist verblüffend einfach. Ohne jede Vorbereitung, ohne theoretischen Ballast oder Vorgaben eines Stadtführers marschiert der Autor einfach los, startet im Zentrum und gelangt Schritt für Schritt, von einem Arrondissement durchs andere bis in die Banlieue, die Vorstadt. Und auch die ist bei Hazan keineswegs grau, sondern erfüllt von buntem Leben – und vom aufschlussreichen Treiben fiktiver, literarischer Gestalten.

Etwa der Hinweis, dass um 1800 nur drei Straßen einen Bürgersteig hatten, ansonsten wurden bei Regen "Brücken geschlagen", Holzbretter über die Kotrinne in der Mitte gelegt – vor denen Gassenjungen ihre Gebühr kassierten. So schreibt Sebastien Mercier, Pionier der Pariser Stadtgeschichte und wichtiger Gewährsmann Hazans. Als Zentralfigur in seiner literarischen Ahnengalerie aber prägt ein anderer dieses fein gezeichnete Tableau von Paris:

Eric Hazan: " Baudelaire ist großartig. Er steht am Kreuzweg: Auf der einen Seite die Schriftsteller der Nacht, Restif de la Bretonne oder Nerval. Auf der anderen Seite eher sonnige Charaktere, Balzac, seine Dichtung als einzige Zurschaustellung von Paris und seinen Farben, von der Madeleine bis Porte Saint-Denis, genial! Und Baudelaire ist ein Brückenpfeiler inmitten dieser beiden Strömungen. "

Baudelaire vor allem verdankt sich auch die Erinnerung an ein ganzes Stadtviertel, das im Laufe der von Hazan so frisch und farbig rekonstruierten Geschichte dem Erdboden gleich gemacht wurde. Diese melancholische Trauer über das untergegangene Paris wird allemal aufgewogen durch die nüchterne Ironie, mit der Hazan die Zerstörung geschichtsträchtiger Orte durch den Präfekten Haussmann nachzeichnet. Der ließ breite Boulevards wie Schneisen durch das mittelalterliche Gewirr innerstädtischer Gassen schlagen, um gegen Aufständische freies Schussfeld für die Artillerie zu haben : Barrikaden und rote Fahnen gegen Marschkolonnen und Kanonen, das ist nicht nur ein Schlüsselmotiv in Hazans Geschichte von Paris, sondern auch Anlass, über bekanntes und breit getretenes Bücherwissen hinauszugehen:

Eric Hazan: " Wohin haben sich die Orte des Aufruhrs im Laufe des 19. Jahrhunderts verlagert? Unter Louis-Philippe werden die Barrikaden immer noch in der Cité errichtet. Danach aber folgt die Revolte des Juni 1848 der industriellen Revolution in die Vorstädte, aus denen Arbeiterquartiere geworden sind: also im Faubourg Saint-Antoine, Faubourg Poissonière, inbesondere um die neuen Bahnhöfe – Eisenbahnmechaniker konstruieren nun die Barrikaden. "

Nachbeben davon waren noch lange zu spüren. Haussmanns "Säuberungen", so beweist Hazan, wurden im Grunde erst in der Ära von de Gaulle und Pompidou vollendet. Um 1968 herum, als der Autor selbst seinen Ort im Getümmel von Paris fand.

Eric Hazan: " Ich erinnere mich an die Barrikade in der Rue Sorbonne, im Quartier Latin. Eine Barrikade der Studenten, eine symbolische Aktion, die Rückkehr des Symbols der Revolution, militärisch ohne jede Bedeutung. "

Diesen symbolischen Kampf sucht Hazan nun erneut auszufechten, nicht mit harten Bandagen, sondern mit dem Witz des versierten Spaziergängers, des wahren Connaisseurs, der oberflächliche Konsumreize wie die Nobelboutiquen von Saint-Germain als "Geschwulst im städtischen Gewebe" diagnostiziert und ihnen allemal den ganz gewöhnlichen Markt von Montorgeuil vorzieht:

" Mit den farbigen Frauen, den Pakistani, dann die Türken vom Markt Saint-Denis – wunderbar! Aber Saint-Germain – fürchterlich, das hat es nicht verdient. Selten hat der Luxus derart den Geist vertrieben, der doch an jedem Ort hängt. "

Und schließlich – nicht am Ende, aber in den Außenbezirken angekommen – zeigt sich plötzlich wieder der Arzt Eric Hazan: Zu seinem Schlussplädoyer bewegt der Chirurg die Hände, als gelte es, fachgerecht eine Wunde zu vernähen:

" Schließlich muss man wieder ins Herz von Paris zurückbringen, was Gebiete mit "schwieriger" Bevölkerung genannt wird, etwa Les Lilas oder Bagnolet. Dazu braucht es den politischen Willen – und sehr gute Architekten, die das städtische Gewebe erneuern zwischen den letzten Häusern von Paris und den ersten der Banlieue. "

Eric Hazan: "Die Erfindung von Paris"
Ammann Verlag, mehr als 600 Seiten