Ein spanisches Epochengemälde

Die spanische Presse feiert den Schriftsteller Antonio Munoz Molina, ehemals Leiter des New Yorker Instituto Cervantes, des spanischen Pendants zum Goethe-Institut. Die Geschichte seines Roman ist eine Romanze. Besonders macht sie aber die Zeit, in der sie spielt: kurz vor Beginn des spanischen Bürgerkriegs.
Einen Gipfel der Roman-Originalität wird man das kaum nennen können: Eine junge Amerikanerin schlägt während ihrer Bildungsreise durch Europa in Madrid auf und verliebt sich in einen arrivierten und deutlich älteren Architekten. Alle Schleusen öffnen sich: Leidenschaft, Sex im schmuddeligen Stundenhotel, amour fou! Und der übliche Konflikt, der einem verheirateten Mann Ende 40 und Vater zweier Kinder sehr zu schaffen macht und an dem schließlich, nach wenigen Monaten nur, die Beziehung zerbricht.

Dass Antonio Munoz Molinas Roman deutlich mehr ist als eine süßlich-herbe Stadtromanze, liegt zunächst und vor allem an seiner historischen Einbettung. Das Geschehen spielt zwischen 1935 und 1936, es ist die Zeit kurz vor und unmittelbar nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Spanien. Ignacio Abel, der Architekt, ist Bauleiter auf einer der ambitioniertesten und größten Baustellen, die Europa in jener Zeit zu bieten hat, dem Campus der Madrider Complutense-Universität. Im Spannungsfeld der politischen Krisen der Republik, der wiederholten Streiks, der Materialdiebstähle, versucht er, den Zeitplan für die Fertigstellung des Prestigeobjekts einzuhalten.

Er stammt aus einfachen Verhältnissen, hat sich ehrgeizig und zielstrebig hochgearbeitet, ein Studienaufenthalt in Deutschland – in Berlin und am Bauhaus in Weimar – hat ihm nicht nur die entscheidende Prägung als Architekt gegeben, sondern auch einen Blick auf eine dynamische, hochmoderne Zivilisiertheit vermittelt. Er hat sich „gut” verheiratet, mit einer Tochter aus der Madrider Hochbourgeoisie, die er knapp vor der entsprechenden Altersschwelle vor einer Zukunft als alternde Jungfer bewahrte. Den Preis für diesen gesellschaftlichen Aufstieg, ein leidenschaftsloses Eheleben und gelegentliche Aufwallungen von Nicht-Zugehörigkeit, zahlt er mit beherrschter Disziplin.

Als ihm die junge Amerikanerin Elizabeth Biely – Tochter jüdischer Auswanderer aus Russland – begegnet, fällt die Fassade der bourgeoisen Beherrschtheit in sich zusammen. Aus der Affäre wird eine Obsession, die Heimlichkeiten türmen sich, bis sie zu einem unübersehbaren Berg anwachsen. Als Ignacio Abels Frau einen Selbstmordversuch unternimmt und sich keinerlei Perspektive für die Liebenden einstellen will, zerbricht die Beziehung, Elizabeth verschwindet abrupt. Wochen später, der Bürgerkrieg ist in vollem Gang, flieht Ingnacio Abel in die USA, wo ein möglicher Auftrag auf ihn wartet.

Minuziös und ausschweifend schildert Munoz Molina nicht nur die tiefen Gefühle und Turbulenzen dieser Liebesbeziehung, in gleicher Weise erfasst er die beunruhigenden Verwerfungen und Stürme in der Gesellschaft. Das spezielle spanische Vorkriegsklima, in dem sich aus sozialistischen, kommunistischen, anarchistischen und falangistischen Begehrlichkeiten und Übergriffen, aus Gewinnerwartungen, intriganten Hoffnungen und fragwürdigen Koalitionen das Unheil des Franco-Putsches entwickelte, beschreibt der Autor meisterhaft. „Die Nacht der Erinnerungen“ ist in dieser Opulenz ein geradezu altmodischer Roman. Man darf das, einerseits, positiv verstehen. Das Ideal des „totalen“ Romans, des Epochen- und Sittengemäldes, das noch in die letzten Winkel hineinleuchtet und dabei eine bewegende Geschichte seiner Protagonisten erzählt, ist hier beispielhaft erfüllt. Dieses ganz auf Vergegenwärtigung, faktische Dichte und Einfühlung gegründete Erzählverfahren hat, andererseits, seine Tücken. Dem Leser bleibt kaum Spielraum für Assoziatives, für die eigene Fantasie. Diese „Nacht der Erinnerungen“ wird zu etwas Unausweichlichem, wie die Geschichte, aus der sie erzählt.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Antonio Munoz Molina: Die Nacht der Erinnerungen
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
1003 Seiten, 29,99 Euro

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