Ein SOS-Kinderdorf und die älteste Sozialsiedlung der Welt

Von Bettina Ritter und Verena Kemna |
In unserer neuen Reihe "Meridian 11" reisen zur Zeit unsere Reporter entlang des 11. Längengrads in Deutschland - von Süd nach Nord. Ein halbes Jahr lang sind sie unterwegs, in 25 Live-Reportagen werden Geschichten aus dem Alltag erzählt. Diesmal sind wir im SOS-Kinderdorf am Ammersee und in der ältesten Sozialsiedlung der Welt, der Fuggerei in Augsburg, zu Gast.
Maurer: "Die Kinderdorfmütter in Dießen, in Dießen weiß jeder: Das war einmal eine Kinderdorfmutter."

Franziska: "Jeder bewundert das auch."

Maurer: "Die ehemaligen Kinderdorfmütter sind hier alle anerkannt. Wirklich. Auch wenn man den Namen nicht weiß, weiß doch jeder: Des war a Kinderdorfmutter."

Irlacher: "Zur Frau Gehring gehen wir jetzt. Haus 12 ist des."

Rosina Irlacher stapft entschlossen die eisglatte, schmale Straße zum SOS-Kinderdorf Ammersee hinauf. Die 19 Häuser liegen auf einem Hügel am Dießener Stadtrand.

Rundherum: Natur pur. Verschneite Felder, in der Ferne die Berge mit einem Zuckerhut. Rosina Irlacher würdigt sie mit keinem Blick. Die 79-Jährige kennt sie in- und auswendig. 34 Jahre hat sie hier gelebt. Sie ist eine der ersten Kinderdorfmütter Deutschlands. Zwei Jahre war sie nicht mehr hier oben, sagt sie und zeigt auf ein weißes Haus. Auf dem Dach: eine nachträgliche Etage mit taubenblauer Holz-Verschalung im skandinavischen Stil.

Irlacher: "Das sind also die ehemaligen Bungalows, und dieser Aufbau – das wurde drauf gebaut. Das waren Bungalows, alle drei, und da wurde drauf gebaut, so dass jedes Kind ein Zimmer für sich hat. Das finde ich gut. Das hätt’ ich mir früher auch gewünscht. Grad’ für die Größeren."

Irlacher lächelt. Viel hat sich verändert seit sie vor 50 Jahren hier angefangen hat. Nicht nur die Häuser sind inzwischen bunter. Die Fenster schmücken rote, hellblaue oder türkisfarbene Holzläden. In den Vorgärten steht Gebasteltes: Ein Schneemann aus Holz, in einem Baum hängen bunt angemalte Holzblüten. Alles wirkt freundlich, auch bei drei Grad minus. Die zarte, kleine Frau mit dem dunkelbraunen Pagenkopf und der gold gerahmten Brille klingelt am Haus Nummer zwölf. Auf dem Namensschild: Familie Gehring.

Irlacher: "Da sind wir, bei Frau Gehring."

Junge: "Hallo."

Irlacher: "Hallo. Guten Morgen."

Gehring: "Hallo!"

Irlacher: "Die Kinder haben Ferien wegen Fasching!"

Gehring: "Nein, die sind krank, deshalb sind sie da."


Margret Gehring führt Rosina Irlacher in die große Wohnstube. Auch hier wirkt alles freundlich: gelb gestrichene Wände, blaue Teppiche auf Holzboden. Irlacher setzt sich an den großen Esstisch. Fünf Kinder leben hier, zwei Mädchen, drei Jungen zwischen 9 und 14, erzählt Gehring und streicht sich die blonden, halblangen Haare hinter die Ohren. Seit 15 Jahren ist die gelernte Erzieherin mit dem langen Jeansrock und der lilafarbenen Strickjacke schon Kinderdorfmutter. Seitdem hat sich einiges verändert, erzählt sie und stemmt die Hände in die Hüften.

Gehring: "Der Bürokratismus, der ist wesentlich mehr geworden. Wir müssen viele Sachen schriftlich fixieren, was man früher mündlich verabredet hat. Wir haben natürlich Verantwortung dem Jugendamt gegenüber, das ist einfach der Auftraggeber, die wollen wissen, was läuft. Die kommen ein- bis zweimal im Jahr. Die wollen wissen, was läuft in der Erziehung, gibt es Fortschritte, und das muss schriftlich festgelegt werden, und das kann manchmal zeitraubend sein. Manchmal denkt man schon, ach, heute ist wieder ein Tag vergangen, wo man nur Bürokram gemacht hat, und hamwa überhaupt mit einem einzelnen Kind mal was gemacht?"

Darum hat eine Familie heute jede Menge Personal, erzählt Gehring weiter. Eine halbe Haushaltshilfe, eine Erzieherin, einen Sozialpädagogen, eine Praktikantin und eine Auszubildende. Dazu kommen Therapeuten und Psychologen. Irlacher schüttelt den Kopf. Vor 50 Jahren ist sie ganz allein mit ihren neun Pflegekindern. Sie muss sich damals um die Kinder kümmern, kochen, waschen und flicken. Noch nicht einmal eine eigene Waschmaschine gibt es damals, erinnert sie sich und lächelt bescheiden.

Irlacher: "Da gab’s im Gemeindehaus drei Waschmaschinen und einmal in der Woche durfte jede Mutter ihre Wäsche dahin bringen. Das Problem war, damals gab’s noch keine Pampers, und wir hatten alle kleine Kinder und diese ganze Windelwirtschaft! Eine Waschmaschine wär ein Segen gewesen, aber das gab’s nicht."

Die Idee zu den SOS-Kinderdörfern stammt vom Österreicher Hermann Gmeiner, erinnert sich Irlacher. 1950 eröffnet das erste Dorf in Österreich, acht Jahre später das Dorf am Ammersee in Dießen, das erste in Deutschland. Vorher gibt es nur Heime, in denen die Kinder emotional vernachlässigt werden, sagt Irlacher und runzelt die Stirn. Die Zeit ist damals reif für die SOS-Kinderdörfer.

Irlacher: "Der Hermann Gmeiner hat es selber erlebt. Seine Mutter ist gestorben, es waren neun Kinder und seine älteste Schwester musste dann praktisch diese Kinder erziehen und den Haushalt führen. Und von da ist er ausgegangen. Wir haben öfter mal mit ihm gekämpft, es sollen acht oder sieben sein, neun ist zu viel. Nicht von der Haushaltsführung, aber von der Zuwendung her, fürs einzelne Kind hat man wenig Zeit gehabt, zu wenig."

Rosina Irlacher steht auf, geht Margret Gehring hinterher durch das Haus. Vorbei an der mittelgroßen Küche durch einen Gang. Die Kinder sind in der Schule. Ganz hinten links ist das Zimmer von Basitu, 14. An den Wänden: Poster von Deutsch-Rapper Bushido mit grimmigem Gesicht und barbusige Blondinen. Auf der Fensterbank: eine afrikanische Holzgiraffe. Über dem Bett: eine dunkle Maske. Basitus Eltern kommen aus Togo, erzählt Gehring und schaut zufrieden.

Gehring: "Ich hab zwei Moslems, ich hab zwei Katholiken, ich hab ein Kind ohne Konfession. Hier ist alles wild durchgemischt, aber wir schauen, dass wir jedem gerecht werden."

Rosina Irlacher zieht die Augenbrauen hoch. Sie ist überrascht. Was sich alles geändert hat in 50 Jahren. Damals mussten sogar katholische und evangelische Kinder in getrennten Häusern aufwachsen, erinnert sie sich. Dabei waren es vor allem die Christen, die den SOS-Kinderdorf-Kindern keine besonders große Nächstenliebe entgegen brachten, sagt sie und schaut eindringlich. Im Dorf waren sie sogar als Asoziale verschrien.
Irlacher: "Wir sind mit unseren Kindern am Sonntag immer in die Kirche gegangen. Und damals gab’s noch in der großen Kirche in den Bänken so Schilder, wem der Platz gehört. Wenn man da mit acht oder neun Kindern in die Bank da hinein ist, da kam dann einer, der da sein Schild hatte und hat die ganze Familie hinaus geschoben. Ist öfter mal vorgekommen, in der Kirche drin."

Gehrling: "Also, schaun mer mal, ja, tschüss.""

Irlacher: "So. Gute Luft ist hier draußen. Pulverschnee, schöner Schnee ist das."


Rosina Irlacher geht den Berg hinunter zu ihrem Auto. Sie muss nach Hause, einer ihrer nun schon erwachsenen Söhne wartet auf sie. Tommy kommt jeden Tag zum Essen. Auch zu ihren anderen Kindern hat sie noch guten Kontakt. 19 hat sie aufgezogen, inzwischen hat sie 24 Enkelkinder. Verheiratet war sie nie. Für einen Mann war doch keine Zeit, lacht sie und steigt in ihr Auto.

Knapp zehn Minuten, dann ist Irlacher zurück im Dorf. Die schmale Hauptstraße säumen malerische Häuschen mit bayerischen Holz-Schnitzereien an Türen und Fensterrahmen. Links neben Irlachers braun geklinkerten Mehrfamilienhaus steht ein großes, cremeweißes Gebäude mit großzügigem Glas-Entree - die Seniorenresidenz Dießen. Im vierten Stock lebt ihre ehemalige Kollegin Charlotte Maurer, eine kleine, kräftige Frau mit weißem, kinnlangen Haar.

Franziska: "Also das hier ist eher ein Weihnachtstee mit Zimt und Nelke. Brennesseltee brauchen wir nicht."

Maurer: "Zimt und Nelke ist doch gar nicht schlecht …"

Franziska: "Na ja …"

Maurer: "Warte, ich hab doch so Schwarztee-Zeug, da oben steht das, naaa, recht, den!"

Franziska streckt sich, nimmt eine rote Tüte Tee von einem hohen Regal in der engen Küche. Die 53-jährige, sportlich-schlanke Frau mit den kurzen, grauen Haaren, dezentem Make-Up und Schmuck ist eine von Maurers ehemaligen Pflegekindern. Alle 14 Tage treffen sich die beiden zum Kaffeeklatsch, sagt sie, löffelt Teeblätter in eine Kanne und gießt heißes Wasser drauf. Sie erinnert sich. Damals leben sie fast ausschließlich von Spenden. 60 bis 80 D-Mark gibt es damals pro Kind und Monat, sagt ihre Mutter. Neue Anziehsachen kann man davon nicht kaufen.

Maurer: "Was also gut war: unsere Buben alle, haben alle Lederhosen getragen, im Sommer die kurzen und im Winter die langen, die waren doch nie kaputt. Da denke ich oft, mei, war das ein Glück! Wir wären ja mit Flicken nicht mehr fertig geworden!"

Franziska: "Und die Mädchen haben nur Röcke getragen. Wir hatten immer eine Woche lang dieselbe Wäsche an. Und am Samstag war Badetag, und dann ist das alles in die Wäsche gekommen."

Charlotte Maurer und Franziska nehmen den Marmorkuchen, Teetassen und Teller und gehen ins Wohnzimmer der kleinen Wohnung. Ein etwa 25 Quadratmeter großer Raum, ein großes Fenster mit Blick auf die Berge, an den Wänden gestickte Bilder von Landschaften und Fachwerkhäusern. Und gerahmte Fotografien von ihren Kindern.

An der Wand über der Essecke: Bilder der acht Enkel. Drei davon stammen von Franziska. Das damals 11 Jahre alte Mädchen kommt 1967 ins Kinderdorf. Ihre Stationen vorher: Säuglingsheim und eine Bauern-Familie. Dort wird sie vor allem als Arbeitskraft gebraucht, sagt sie mit ernstem Gesicht und stellt ihre Teetasse ab.

Franziska: "Für mich hat sich eine vollkommen neue Welt erschlossen. Mit Kindern. Mit Spielen. Spielen kannte ich vorher nur sehr dürftig. Ich hatte auch kaum Spielsachen, weil keine Zeit war zum Spielen. Vor allem Feste feiern. Weihnachten, Ostern, Geburtstag! Da hab ich das erste Mal in meinem Leben Geburtstag gefeiert. Und dass man einfach ein Kind sein durfte, das war für mich vollkommen neu und fremd."

Charlotte Maurer hört aufmerksam zu, lächelt. Im Kinderdorf lernt Franziska schwimmen und Radfahren, es gibt Bücher zum Lesen und sonntags Schokolade. Ein Leben im Überfluss, so ihre Wahrnehmung damals.

Franziska: "Da bin ich dann in die Familie gebracht worden, und du hast mir nen Kaba gekocht, und dann sind alle Kinder um den Tisch gesessen, und ich bin mit Schauen nicht fertig geworden. So viele Leute auf einmal war ich nnicht gewöhnt. Das war überwältigend für mich. Und ich hab vom ersten tag an Mutti zu dir gesagt.""

Maurer: "Ja, das ist etwas, über das ich erstaunt war. Normalerweise braucht ein Kind – die brauchen mindestens acht Tage, bis sie das sagen. Das stimmt, du hast gleich Mutti zu mir gesagt. Da hab ich gedacht: Oh wei, oh wei."


Eine Fürsorgerin holt Franziska damals aus der Bauern-Familie und vermittelt sie an das SOS-Kinderdorf, erinnert sie sich. Heute ist es das Jugendamt. Die Anfrage ist groß. Im vergangenen Jahr gibt es 110 Anträge, nur 13 Kinder werden aufgenommen. Ein Platz im Dorf kostet 137 Euro pro Kind und Tag, sagt Franziska und steckt sich ein Stück Kuchen in den Mund. Zwei Drittel kommen aus öffentlichen Geldern, ein Drittel aus Spenden. Heute halten die Eltern Kontakt zu ihren Kindern. Damals undenkbar. Meist sind es Babies aus unehelichen Verbindungen, die im Säuglingsheim abgegeben werden und später ins Kinderdorf kommen. Die meisten sind verhaltensauffällig, so genannte "Problemkinder", erinnert sich Maurer. Einsicht in die Akten bekommen die Mütter damals nicht.

Maurer: "Alle Kinder, die wo ich gehabt hab und alle, wie sie eigentlich gekommen sind, waren in einer schlechten Verfassung. Die ersten vier, fünf Jahre, wenn ich da hab vier oder fünf Stunden schlafen können, dann war das viel."

Franziska: "Die Hälfte der Kinder hat ja eh nicht durchgeschlafen. Die hatten ja alle so ihre Macken nachts. Geschrieen, geträumt, aufgestanden, schlafgewandelt. Bettnässen. Alles, ne? Alpträume."

Dass sie keine leiblichen Kinder hat, das hat sie nie bereut, sagt Charlotte Maurer. Die sind unter Herman Gmeiner ein Kündigungsgrund. Auch eine Heirat ist damals nicht erlaubt. Sie lächelt verlegen.

Maurer: "Wenn manchmal so verliebte Pärchen durchs Kinderdorf gelaufen sind… Aber das waren nur kurze Momente, wirklich! Da hab ich gedacht, mei, das wär ja auch schön. Aber das war gleich wieder vorbei, weil ich gedacht habe, nein, du gehst den Weg. Du hast den Weg gewählt, und den gehst du."

Bescheiden und dankbar, so wirkt die 83-Jährige, die noch immer voller Energie steckt. Zwei Stunden plaudern sie und Franziska über alte Zeiten, dann muss die Tochter los zu ihrer eigenen Familie. Maurer verabschiedet sie an der Tür, geht zurück in ihre Wohnung. Dass sie – obwohl sie keinen Mann und keine leiblichen Kinder hat – nie allein ist, das überrascht sie bis heute.

Weiter geht es auf dem 11. Meridian Richtung Norden. Etwa einhundert Kilometer von Dießen entfernt, liegt Augsburg. Hier hat Jakob Fugger 1521 am Stadtrand die Fuggerei gegründet. Damals war es eine Zuflucht für Kinder in Not. Heute liegt der Altersdurchschnitt der Bewohner bei 70 Jahren. Viele leben von Hartz IV.

Die schmalen Gassen heißen Hintere, Finstere oder Ochsengasse. Wie die Kulisse für einen Historienfilm wirken die fast siebzig niedrigen zweistöckigen Giebelhäuser. Dazwischen, Natursteinmauern, mit wildem Wein bewachsene Fassaden, Vorgärten und Blumenbeete. Von Mauern umschlossen, liegt die Fuggerei wie eine Insel mitten in Augsburg. Für die einen ist es das schickste Ghetto der Welt, für andere ein Ort der Geborgenheit. Maria Frei und Ehemann Robert erfüllen alle Voraussetzungen, die der Stifter Jakob Fugger vor fast 500 Jahren festgelegt hat. Das Rentnerehepaar kommt aus Augsburg, beide sind gläubige Katholiken, leben von einer niedrigen Rente. Haus Nummer 55 sieht aus wie alle anderen in der Fuggerei. Zwei Stockwerke, eine ockerfarben verputzte Fassade, grüne Holzfensterläden, vor dem Eingang ein kleiner Vorgarten.

Eine schmale Holztreppe führt in den ersten Stock. Maria Frei öffnet die Türen: Zwei Zimmer, Küche und Bad, etwa 50 Quadratmeter Wohnraum, Holzfußboden und niedrige Decken, durch die Ritzen der doppelten Holzfenster zieht kalte Winterluft. Im 21. Jahrhundert wohnen die Freis wie zu Zeiten der Renaissance. Die alte Dame setzt sich auf einen Rattanstuhl.

Ein Schrank, ein Tisch, das Schlafsofa, ein Holzkreuz an der weißen Tapete, für mehr ist im Wohnzimmer kein Platz. Sie hüllt sich in ihre leuchtend blaue Strickjacke, draußen schneit es, drinnen ist es kühl. Fast dreihundert Euro im Monat zahlen die Freis für Heizung und Nebenkosten plus den symbolischen Gulden, so ist es Tradition seit fast 500 Jahren.

"Das kann ja keine Miete sein, das ist so eine symbolische Geste die noch aus den Jahren der Gründung der Fuggerei stammt. Da war es ein rheinischer Gulden und als wir hier reinzogen war es 1,72 DM und das hat sich dann in 88 Cent umgewandelt."

Sie kramt ihren Bewohnerausweis aus der Handtasche, legt eine Plastikkarte mit dem Dürerportrait von Jakob Fugger auf den Tisch.

"So sehen auch unsere Eintrittskarten aus für die Besucher die eine Jahreskarte wollen, bloß haben die eine etwas andere Farbe."

Nur mit so einer Scheckkarte kommen Bewohner und deren Freunde umsonst durch das Haupttor. Alle anderen zahlen vier Euro Eintritt. Die alte Dame sieht durch das Fenster ins Schneegestöber. In der kalten Jahreszeit kommen selten Touristen. Trotzdem wird sie auch an diesem Nachmittag wie so oft an der Kasse am Haupttor sitzen. Freiwillig und gerne, für die gläubige Katholikin ist der Kassendienst ein Dienst an der Gemeinschaft. Sie fühlt sich hinter den Mauern der Fuggerei geborgen.

"Ich seh, das so, ich weiß, nicht jeder sieht das so. Ich seh das sehr beschützend. Hier ist man ganz positiv eingebunden. Wenn ich spät abends das Terrain betrete, das ist ein ganz besonderes Gefühl. Dann lässt einen der Nachtwächter ein gegen einen kleinen Obolus. Das ist wunderschön und romantisch."

Wohnen im katholischen Ghetto ? Sie lacht, schüttelt den Kopf.

"Man muss katholisch sein, unbescholten, in Augsburg wohnhaft, schon ein paar Jahre, aber Augsburger von Geburt muss man nicht mehr sein. Das war mal, da waren die Stadtmauern noch intakt, jetzt muss man nicht mehr Augsburger von Geburt an sein, aber man muss schon Deutscher sein."

Außerdem, sagt sie, soll jeder Bewohner dreimal täglich für den Stifter Jakob Fugger beten, ein Credo, ein Ave Maria, das Vaterunser. Maria Frei dreht den Kopf, sieht auf das Holzkreuz an der weißen Wand.

"Man kann zu diesem Zwecke in die Kirche gehen aber man kann das auch zuhause sprechen. Ob ich das mache? Ganz ehrlich, ich vergesse es manchmal, aber der Herrgott, an den denke ich von mir aus täglich, ganz sicher. Aber ob ich das dann so genau nehme mit den Gebeten finde ich für meine Person nicht so entscheidend."

Robert Frei klopft, bleibt in der Tür stehen. Vor acht Jahren noch wollte seine Frau nicht raus aus der Mietwohnung. Der Umzug in die Fuggerei war seine Idee. Heute ist er skeptisch. Er weiß, dass der Erhalt der denkmalgeschützten Reihenhäuser mindestens eine halbe Million Euro im Jahr kostet. Nur mit dem Erlös aus über 3000 Hektar Wald und den Stiftungseigenen Immobilien lässt sich die Wohnsiedlung überhaupt finanzieren. Trotzdem, der alte Mann brubbelt.

"Die Vorteile sind, dass man hier sehr preiswert wohnt, nicht umsonst wie überall erzählt wird. Nachteile sind, es ist ein altes Haus, die Fenster schließen nicht mehr, man braucht viel Heizung, das geht ins uferlose, bei mir ist immer alles aus. Ansonsten, hat alles Vor- und Nachteile, ist eine nette Gemeinschaft hier, es gibt überall Solche und Solche. Man lernt sie ja mit der Zeit kennen. "

Ohne die Stiftung keine Fuggerei. Dafür ist Maria Frei den Fuggerschen Nachfahren dankbar, das erzählt sie auch gerne den Touristen wenn sie am Haupttor Besucherkarten verkauft. Für sie steht das Wohnen in der Gemeinschaft über allem.

"Ich würde sofort noch mal hierher ziehen. Ich lebe hier gerne und vor allem die Nähe der Stadt. Ich habe zweimal Schweigeexerzitien in Sankt Ottilien gemacht, aber nach dem zweiten Mal kam ich zu der Erkenntnis, das Schweigen und die Ferne, das ist nicht meine Welt. Ich will so mittendrin sein."

Sie sieht auf die Uhr. Um 14 Uhr beginnt ihr Kassendienst am Haupttor.

Von der Neuen Gasse in die Ochsengasse. Vor dem kleinen Park mit Teich wohnt die Rentnerin Margot Lehmann. Auch sie engagiert sich für die Gemeinschaft, macht seit Jahren regelmäßig Nachtwache. Ihr Dienst beginnt um 22 Uhr. Noch sitzt Margot Lehmann in ihrem Wohnzimmer auf dem beigefarbenen Sofa, eine Decke über den Knien. In das Zimmer passen nur Sofa und Schrankwand. Neben der Tür hängt ein Holzkreuz. Sie steht auf, schaltet den Fernseher aus, stellt das Gebläse am Nachtspeicherofen ab.

"Machen wir da das Licht aus um die Wärme etwas zu reduzieren, dann ist es morgen nicht eiskalt. Aber schauen sie mal, wenn ich jetzt da in den Gang heize, zwei Zentimeter steht ja da die Tür weg, was da für Wärme raus geht, drum mach’ ich das nicht."


Sie zahlt etwa 150 Euro monatlich für Heizung und Betriebskosten, trägt im Winter immer eine Strickjacke über dem Pullover. Wohnen in zwei Zimmern auf vierzig Quadratmetern. Ja, es ist winzig, sagt die 74 Jahre alte Frau. Manchmal sehnt sich die fast zwei Meter große Frau noch nach ihrer alten Mietwohnung. Aber jeden Tag zu Fuß in den dritten Stock, im Winter mit Kohle heizen, das würden meine Knochen heute nicht mehr aushalten, sagt sie, nimmt den dunklen Wollmantel vom Haken, hantiert mit dem Schlüssel.

"Jetzt mache ich die Türe zu, mache alles dicht und jetzt gehe ich zum ersten Tor zum zusperren und zwar ist das noch ein kleines Tor, mehr eine Haustür."


In den Gassen ist es dunkel, aber Margot Lehmann würde den Weg auch mit geschlossenen Augen finden. Im schummrigen Licht der Gaslaternen läuft sie vorbei an einem Schuppen, in Richtung Sparrenlech. Jeden abend um 22 Uhr werden die Toreingänge zur Fuggerei geschlossen. Seit fast fünfhundert Jahren hat sich daran nichts geändert. Margot Lehmann versteht es als Ritual.

"Ich denke immer, das ist Tradition und das gehört dazu zu dem ganzen Museum."

Sie schließt eine grüne Holztür, läuft weiter in Richtung Herrengasse. Aus einigen Häusern dringt Licht trotz zugezogener Vorhänge. Die Heiligenfiguren in den Giebelvorsprüngen sind nur schemenhaft zu erkennen. Die knorrigen armdicken Wurzeln der wilden Weinstöcke an den Fassaden sehen im Dunkeln aus wie ein Gewirr aus dicken Schlangen. Margot Lehmann zeigt auf die Holzbänke vor den Häusern, deutet in die Dunkelheit, da hinten ist der kleine Park. Vor einem Haus am Haupteingang bleibt sie stehen, legt den Kopf in den Nacken, sieht zu den Fenstern im zweiten Stock. Es ist still.

"Ansonsten tut sich nicht viel, außer der Pfarrer horcht Fußball, dann macht er so laut es geht. Im Sommer macht er die Fenster auf, dass die anderen wenn sie hier auf dem Platz sitzen, auch noch was hören, da habe ich mich schon immer amüsiert."

Ein paar Schritte weiter bleibt sie vor einer zweiflügeligen Holztür stehen. Von der Straße dringt der Lärm der Augsburger Innenstadt herein. In der Fuggerei sind Privatautos verboten. Margot Lehmann hantiert mit dem schweren Tor, sie pustet und lacht, dann schließt sie ab.

"Das gehört dazu zur Fuggerei."

Ebenso wie die drei täglichen Gebete für den Stifter Jakob Fugger. Alle vier Wochen einmal Nachtwache, jedes Mal von zehn Uhr abends bis früh um fünf, das versteht die gläubige Katholikin als Dienst an der Gemeinschaft. Wie die meisten Bewohner könnte sich die ehemalige Verkäuferin mit ihrer geringen Rente kaum eine Mietwohnung leisten. In der Fuggerei fühlt sie sich auch aufgehoben. Alle kennen sich, es ist nie einsam, sagt sie, steckt den Schlüssel in eine Tür neben dem Haupttor.

"Es ist schön warm, das ist wichtig. Unsere persönlichen Sachen haben wir nicht viel, die Bettwäsche ist Eigentum, das ist die Toilette, für das Übliche ist gesorgt."

Hier wird sie die Nacht verbringen. Da stehen Bett, Kachelofen, Nachttisch und Telefon. Margot Lehmann setzt sich in einen Lehnstuhl, stellt den Wecker auf viertel vor fünf. Punkt fünf Uhr muss sie das Haupttor wieder öffnen, so steht es in den Vorgaben der Stiftung.
"Na ja, jetzt wird es so zehn nach zehn, machen wir Licht, entweder Fernsehschauen, lesen kann ich nicht viel, ein bisschen Radio hören, rätseln, das ist dann unser Abend oder unsere Nacht. Um halb eins lege ich mich dann schon meistens hin. Später kommt selten jemand."

Auf dem Nachttisch liegt eine Liste mit den Namen aller 150 Bewohner. Kinder, alleinerziehende Mütter, junge Ehepaare sind die Ausnahme. Margot Lehmann legt sich das Rätselheft auf den Schoß und wartet. Eine Stunde später klingelt es.

"Ja bitte ? Ich lass dich rein, so."

Sie drückt auf den Einlassknopf, steckt den Kopf durch ein winziges Fenster neben dem Nachttisch.

"So, wo waren wir denn? Ich war bei meiner Schwägerin, drum hast du dich auch so fein gemacht. Hauptsache, es war nett, du hast ja viele Schwestern, da ist das ja dann eine große Familie. Dann wünsche ich dir eine gute Nacht, bitte schön!"

Auf dem Fensterbrett liegt ein fünfzig Cent Stück. Auch der Obolus für die Nachtwache ist ein Relikt aus den Gründerzeiten der Fuggerei. Sie schmunzelt, steckt das Geldstück in die Jackentasche.

Für sie steht fest, sie wird die Gemeinschaft der Fuggereibewohner nicht freiwillig verlassen. Margot Lehmann hat ihren Umzug vor vier Jahren nicht bereut. Nur eines vermisst sie.

"Wo ich mich noch nicht daran gewöhnt habe, die Spaziergänge. Also spazieren gehen das war bei meiner alten Wohnung so schön, aber man hat Parks hier und es ist ein bisschen Heimweh nach der alten Wohnung dabei. 36 Jahre lassen sich nicht so leicht auswischen."