Ein selbstzufriedener Faust

Von Ulrich Fischer · 18.08.2009
In dieser Neuinszenierung des Klassikers "Faust" wird Mephisto von einer Frau gespielt. Der rumänische Regisseur Silviu Purcarete lässt die Figur des Gretchens von sieben Schauspielerinnen darstellen.
In Edinburgh ist wie im August jeden Jahres die Festivalitis ausgebrochen. Es gibt ein hochkarätiges Buchfestival, zu dem aus der englischsprachigen Literaturwelt reisen muss, wer Rang und Namen hat; ein Jazz-Festival; das weltgrößte Festival der Freien Gruppen, das so genannte "Fringe" und last, but not least: das "Tatoo" – ein Treffen von Militärkapellen aus aller Welt auf dem Vorplatz des Schlosses, das über Schottlands schöner Hauptstadt thront. Das "Tatoo" sollte nicht gering geachtet werden, denn es zieht die größte Zahl von Besuchern an.

Aber die Krone aller Festivals ist das Edinburgh International Festival. Es genießt weltweit hohes Ansehen und wird in einem Atemzug mit Avignon und Salzburg genannt. Das Programm ist reich, gleich in der ersten Woche gibt es zum Beispiel "Faust" - nach Goethe. Silviu Purcarete inszeniert.

Im Programmheft steht, die Spielfassung sei eine freie Adaption nach "Johann Friedrich von Goethe". Der falsche Vorname könnte als Kleinigkeit unerwähnt bleiben, aber Unachtsamkeiten, die Zweifel an der analytischen Durchdringungskraft des Regisseurs wecken, durchziehen die ganze Inszenierung von Purcarete.

Obwohl über 70 Schauspieler auftreten, haben nur zwei Rollen zugewiesen bekommen - Faust und Mephisto. Gretchen wird von sieben Darstellerinnen gespielt. Sie erscheinen wie Elfjährige, treten in Schuluniformen aus dem 19. Jahrhundert auf - und Faust wirkt wie ein Kinderschänder. Von der Zuneigung, von der Liebe Gretchens wird nichts sichtbar.

Das hat Folgen für den großen Bogen - schließlich ist es Gretchens Liebe über das Grab hinaus, die es Faust erspart, zur Hölle fahren zu müssen. In Purcaretes Inszenierung fehlt diese Begründung - und nicht nur diese. Die Handlung ist sprunghaft, fragmentiert, bleibt ein Rätsel. Die Striche sind riesig, von der Tragödie zweitem Teil bleiben nur Rudimente des 5. Aktes. Textpartikel werden verschoben - als Mephisto sich in Faust verwandelt, fehlt der Schüler. Die Worte des Teufels verlieren ihre szenische Funktion - Mephisto wirkt bei Purcarete dümmer als bei Goethe. Eine schwere Fehleinschätzung des Bösen.

Für alle, die nicht rumänisch verstanden, wurde der Text übersetzt und auf Leinwände projiziert. Wenn die englische Fassung richtig gewesen sein sollte, sind dem rumänischen Übersetzer dicke Fehler und schwere Missverständnisse unterlaufen. Aus "Zwar weiß ich viel, doch möchte ich alles wissen" wird "Ich weiß zwar nicht alles, aber doch viel". Das ist ein selbstzufriedener Faust. Goethes Gelehrter ist ehrgeizig, er will Grenzen sprengen. Das Fesselnde an der Gestalt, die es wagt, selbst mit dem Teufel einen Pakt einzugehen, um zu neuen Erkenntnissen vorzudringen, die Spießerwelt hinter sich zu lassen, fehlt. Goethes Renaissancemensch, der Geistesriese schrumpft in Edinburgh zu einem verbrecherischen Konsumidioten.

Gespielt wird in einer Ausstellungshalle nahe dem Flughafen. Die ersten Szenen rollen in einem einheitlichen Innenraum ab, eine Art Schule, Fausts Schüler arbeiten an Computern. Einen Gegensatz von der engen Gelehrtenstube und dem freien Feld gibt es nicht. In der Walpurgisnacht reißt die Hinterwand auf und die Tiefe der Halle wird sichtbar. Das Publikum wird eingeladen, seine Plätze zu verlassen und an der Walpurgisnacht teilzunehmen. Feuerwerkskörper explodieren, Hexen kopulieren mit Schweinen; auf Videowänden, mosaikartig zusammengestückelt aus Fernsehbildschirmen, sieht man das weißgeschminkte Gesicht Mephistos, der sich lüstern die roten Lippen leckt. Ein Orchester liefert ohrenbetäubende Höllenmusik, Menschen, an Gabelstaplern aufgehängt, werfen Getreide ins Publikum. Surrealistische Bilder dominieren, die ins Ungewisse ausweichen. Mephisto spielt sich als Herr auf, ein Dirigent des Höllenspuks in rotem Frack.

Die Walpurgisnacht ist unübersichtlich, weil die Zuschauer mittendrin stehen. Überwältigungsdramaturgie, die Vernunft soll ausgeschaltet werden, die Bilder wirken mit ihren grellen Effekten opern- und zirkushaft - opernhaft auch das Spiel von Ilie Gheorghe als Faust und Ofelia Popii als Mephisto. Ein nuanciertes Spiel wäre in der großen Halle auch kaum möglich - aber das alte Staatstheaterpathos des Hauptdarstellerpaares wirkt doch arg verstaubt. Warum Mephisto von einer Frau gespielt wird, wird nur angedeutet - offenbar vermutet Purcarete erotische Spannungen zwischen Faust und dem Teufel.

Also eine sehr freie Adaption - die aber wegen der Anleihen bei einigen Versen und manchen Arrangements und Bildern den Vergleich mit Goethe nahe legt. Goethes "Faust" ist vor allem klarer als der Purcaretes, er ist nachvollziehbar statt verrätselt. Er spricht mehr Kopf und Herz an als Pucaretes Fassung, die sich an die Schaulust wendet.

Und Goethes "Faust" hat auf die Nachwelt gewirkt. Zu Goethes Zeit war es in Deutschland noch üblich, Kindsmörderinnen den Kopf abzuschlagen. Goethe selbst soll noch an einem Todesurteil mitgewirkt haben. Der "Faust" hat wohl die Herzen so mancher Richter und Gesetzesmacher erreicht, ihre Vernunft angesprochen. Wenn Kindsmörderinnen heute ein milderes Urteil zu erwarten haben, wenn sich die Gesellschaft fragt, welche Verantwortung ihr zukommt, wenn junge Mütter verzweifeln, dann ist das ganz gewiss auch ein Verdienst Goethes und seines "Faust". Es ist ein großer Verlust in Purcaretes Inszenierung, dass dies humane Botschaft in der Bilderflut ertrinkt.

Im Programmheft wird der Name von Silviu Purcarete dicker und größer gedruckt als der Goethes. Ob der Regisseur meint, er sei bedeutender als der Dramatiker? Das wäre ein Irrtum.

Service:
Das Edinburgh International Festival findet vom 14. 08. - 06.09.2009 statt.