Ein Schweizer im Niemandsland

Von Ralph Gerstenberg |
Der Schweizer Musiker und Konzertveranstalter Jürg Bariletti hat in Berlin ein neues Zuhause gefunden. In Stralau, einer Mischung aus Industrie- und Wohngebiet, hat er sich eine ehemalige Bahnarbeiterkantine ausgebaut, die zu einem wichtigen Veranstaltungsort für experimentelle Musik in Berlin geworden ist. Seit über drei Jahren finden dort aufregende Veranstaltungen im Grenzbereich zwischen Musik und darstellender Kunst statt.
Bariletti: "Ich suchte irgendwas, ein Wohnatelier oder eine Fabriketage, irgendwas in diesem Sinn, wo ich arbeiten konnte als Pianist, einen Flügel reinstellen und so, und das fand ich in der Schweiz nicht, nichts Bezahlbares."

Dem Schweizer Jürg Bariletti ist es zu eng geworden in seiner Heimat. Schon im Alter von sechs Jahren langweilte ihn der klassische Klavierunterricht, er begann zu improvisieren und nach eigenen Ausdrucksformen zu suchen. Seine Eltern förderten den kreativen Drang ihres höchst aktiven Sohnes.

Bariletti: "Ich hatte das Glück, dass mein Vater Jazz hörte und meine Mutter klassische Musik und dass ich kein TV hatte, nur ein Piano im Kinderzimmer, also das war natürlich unterstützend."

Nach einer Ausbildung zum Dekorationsgestalter und einem Piano-Studium an der Swiss-Jazz-Schule in Bern arbeitete Jürg Bariletti als Komponist und Film- und Theatermusiker, er spielte in verschiedenen experimentellen Ensembles, organisierte Workshops und widmete sich der "Klangforschung" - so nennt der Achtunddreißigjährige seine Soundexperimente. Nachdem er in seiner Heimatstadt Chur eine Plattform für freie Musik ins Leben gerufen hatte, zog es Bariletti auf der Suche nach neuen Arbeitsmöglichkeiten und kreativen Freiräumen vor vier Jahren nach Berlin.

Bariletti: "Hier ist es noch möglich (…) gerade im Bereich experimentelle Musik, also viele kommen aus London, Paris - die ganzen engen übervölkerten Städte, wo es halt wenig Platz gibt, Möglichkeiten, Plattformen für innovative Kunst."

In Alt-Stralau, direkt neben den S-Bahn-Gleisen, fand Jürg Bariletti bald seine neue Wohn- und Wirkungsstätte: Ein etwa vierhundert Quadratmeter großer Flachbau aus DDR-Zeiten.

Bariletti: "Dieses ist ja ein eingeschossiges Bauwerk der Bahn auf einem brachliegenden Bahngelände, das mal eine Kantine war für Bahnarbeiter. War total zugesprayt mit Gaffiti und so. Ich musste dann erstmal mit dem Schlüsselanhänger die Scheibe aufkratzen und sah rein, dass es leer steht und glücklicherweise war gerade jemand auf dem Gelände, den ich fragen konnte."

Jürg Bariletti trägt einen dicken Wollpullover und eine Mütze. Darunter funkeln zwei wache Augen, die einen mustern, während Bariletti, die Hand in der Tasche einer ausgebeulten Jeans, seinen Wohnbereich zeigt. Das Thermostat der Heizung zeigt eine Raumtemperatur von 14 Grad an.

Bariletti: "Mein zweites Piano steht hier, ein paar Theaterinstrumente, mein Arbeitstisch, ja so Essen-Zähneputzen-Arbeiten-Schlafen-Zimmer."

Allein und spartanisch lebt Jürg Bariletti in der ehemaligen Bahnarbeiterkantine, in der es anfangs weder Strom noch Wasser gab. Ein Jahr lang hat der Schweizer sein Refugium im Niemandsland von Berlin ausgebaut. Luxus vermisst er nur selten.

Bariletti: "Im Winter, in der Küche, wenn’s ganz schlimm ist, so bei Minus fünf, sechs Grad, dann mich duschen und so. Also das ist dann schon hart."

Im ehemaligen Speiseraum der Bahnarbeiter steht Barilettis Bechstein-Flügel. Mindestens zweimal im Monat finden hier Veranstaltungen statt. "Stralau 68" heißt dieses Podium der experimentellen Musik, das Bariletti nun schon seit über drei Jahren organisiert.

An diesem Abend improvisieren die Musiker des Orchestras Ignabru im "Stralau 68" - eine deutsch-japanische Combo mit einem amerikanischen Percussionisten. Zwei klassisch ausgebildete Tänzerinnen bewegen sich dazu, flirten mit den Sounds und drehen sich grazil im Getöse. Zirka zwanzig Leute verfolgen die Performance. Viele kennen sich. Die Szene ist sehr übersichtlich. Aber immer wieder kommen auch Neugierige aus der Nachbarschaft.

In der Pause steht Jürg Bariletti mit kurz geschorenem Kopf in schwarzem Sakko und roter Hose hinter der Bar und verkauft Getränke. Nur was vom Umsatz übrig bleibt, landet in seiner Tasche. Der Eintritt geht zu 100 Prozent an die Musiker. Wovon er lebt?

Bariletti: "Von nichts - nee! Ich hab teilweise Theaterprojekte, vor allem in der Schweiz, ja, das ist es eigentlich, von der Musik hier kann ich kaum leben als ausübender Pianist. (…) Aber ich finde es eben sehr, sehr wichtig, dass solche Plattformen existieren."

Wenn die letzten Gäste gegangen sind, wird es still in Alt-Stralau. Jürg Bariletti ist dann ganz allein auf dem Areal, auf dem sich außer seinem Flachbau nur noch eine Autowerkstatt, ein Trödler, ein Alteisenhändler und Proberäume für Bands befinden. Eine gute Zeit, um Aufnahmen zu machen. Zum Beispiel mit dem präparierten Flügel, aus dem Bariletti Tastatur und Pedale entfernt hat. Dafür stecken jetzt Messer und Gabeln zwischen den Saiten, die mit Drähten, Schnüren und Zugfedern verbunden sind.

Bariletti: "Ja, ich kann jetzt gerne mal ein bisschen was demonstrieren, was so möglich ist mit einem Flügel. Gut geübte Ohren hören noch immer, dass es ein Flügel ist. Aber es tönt schön ziemlich anders als konventionell."

Jürg Bariletti tritt auch selbst regelmäßig im "Stralau 68" auf, zum Beispiel in der Veranstaltungsreihe "Geflügel", in der sich zwei Pianisten gegenseitig bei Live-Improvisationen inspirieren. Häufig besuchen ihn auch Kollegen aus der ganzen Welt. Das Haus im Niemandsland neben den Bahngleisen ist in der Szene mittlerweile kein unbekannter Ort.

Bariletti: "Durch diesen Ort kommt man halt - was das Schöne ist – in Kontakt mit internationalen Künstlern und Gleichgesinnten , man diskutiert, man tauscht sich aus, man macht spontan irgendwas zusammen, entwickelt was, was dann teilweise fast immer zu einem öffentlichen Auftritt führt."

Am 16. Dezember um 21 Uhr spielen im Stralau 68 der Drummer John Hollenbeck und der Stimmartist Theo Beckmann.