Ein Schock für Österreich

Von Gunter Hofmann |
Es gebe keinen „Fall Österreich“, hat der Kanzler des Nachbarlandes konstatiert und sich damit gegen ein internationales Schandbild gewandt, das die Medien – wieder einmal – produzierten. Die albtraumhafte Geschichte über das Doppelleben des Vaters, über der Erde mit adretter Bürgersfamilie, der unter der Erde seine Tochter Jahrzehnte gefangen hält und im Inzest gezeugte Kinder ohne jedes Tageslicht aufwachsen lässt – das sei ein Einzelfall, sagt Alfred Gusenbauer, und so sagen es auch Psychologen.
Ich glaube, Gusenbauer hat Recht, man kann nicht einfach das monströse Verhalten des Josef Fritzl und die Leidensgeschichte der Natascha Kampusch, auch sie jahrelang eingekerkert, zusammensetzen zu einem Österreich-Gesamtgemälde mit pathologischem Grundzug. Erlaubt, so meine ich, ist es dennoch zu fragen, in welchem Land solche Dramen sich abspielen. Wie in Belgien, nachdem Marc Dutroux als Kindermörder enttarnt war, werden jetzt in Österreich Fragen gestellt, aber auch Vorurteile und Klischees bestärkt, vor allem das vom erstickend engen Land Österreich mit der Doppelmoral, außen hui und innen pfui. Als gäbe es Doppelmoral nicht auch anderswo, als hätten nicht auch wir unsere heimlichen Keller, als verbergen sich hinter der bürgerlichen Fassade nicht sonst auch verkrümmte Seelen, als gäbe es nur in St. Pölten Priester, die Pornobilder von Kindern gesammelt haben, und einen Bischof, der sie – bis der Papst die Abdankung erzwang – auf schändliche Weise in Schutz nimmt. Oder: Als wiegten nicht auch wir uns in dem Glauben, der „Staat“ habe letztlich schon hinreichend Kontrolle auch über die Kellergewölbe, die verborgenen Orte, weshalb es uns nicht sonderlich interessieren muss, was nebenan geschieht.

Also – nur nicht voreilig mit dem Finger auf andere zeigen, heißt das. Was aber das Österreich-Image angeht: Das Land hat sich lange Jahrzehnte gerne als Opferland dargestellt, und wahrscheinlich sogar so empfunden – Opfer der Machtergreifung durch Hitler, der bekanntlich ein Österreicher war. Aber – am 18. März 1938 jubelte eine halbe Million Wiener dem „Heimkehrer“ im Herzen ihrer Hauptstadt nur zu gern zu. Daran oder an den antisemitischen Wahn auch nur zu erinnern, ist Fremden oft übel genommen worden.

Als Richter waren die Deutschen nun auch besonders ungeeignet. Was zudem den Umgang mit der Vergangenheit angeht – auch wir brauchten lange Zeit, um offener zu werden, richtig aber ist wohl, dass das Verschweigen und Verdrängen viel Gegengifte produzierte und die Bundesrepublik (West) zumindest zeitlich beim Aufarbeiten vorauseilte. Kiesinger, der ein kleiner Mitläufer war, wurde 1966 zum Kanzler gewählt, in Stuttgart amtierte Filbinger als Regierungschef, obwohl schreckliche Urteile aus seinem Mund gegen Marinesoldaten noch zum Kriegsende publik wurden. Aber noch 1986 wurde in Österreich Kurt Waldheim zum Präsidenten gewählt, und trotzig reagierte nicht nur er auf Vorwürfe, als NS-Offizier an Kriegsverbrechen auf dem Balkan beteiligt gewesen zu sein – viele in Österreich sahen sich immer noch und wieder als „Opfer“ wie er, zu viele glaubten, sie hätten ein Recht auf Verdrängung. Über dieses Österreich schrieb der Journalisten-Kollege Joachim Riedel ein großartiges Buch unter dem Titel „Das Geniale, das Gemeine“. Beides, so seine Grundthese, wohne dicht beieinander in dieser Österreich-Seele.

Der Salzburger Schriftsteller Thomas Bernhard sah es Zeit seines Lebens wohl ähnlich. Überhaupt, man könnte nun von Peter Altenberg bis Robert Musil oder Joseph Roth, von Sigmund Freud bis Karl Kraus auf viele große Geister verweisen, die Landeskinder waren, aber beispielhaft über die seelischen Abgründe reflektierten. Gerhard Roth, Weinzierl, Menasse, Haslinger, die Linie ließe sich ins Aktuelle fortführen. Auch Österreich entwickelte nämlich seine Gegengifte. Vielleicht später, aber doch.

Worauf ich also hinaus möchte: Ich vermute, Österreich hat sich wirklich geändert. Ja, es hat seinen Rechtspopulisten Jörg Haider bis fast an die Spitze kommen lassen, aber jetzt hat das Land sich beinahe befreit von solchen strammen Jungs. Es ist europäisch verankert. Mir scheint, als habe der Fall von Mauer und Vorhang 1989 eben doch unendlich viel bewirkt: Wien beispielsweise, das als mental eng galt und Verdrängungsweltstadt, mit vielen Kellern unter der wunderbaren Benutzeroberfläche, liegt nun wieder an einer Nahtstelle zwischen Ost und West, es herrscht ein babylonisches Sprachen- und Kulturgewirr. Die Universitäten sind Anlaufstellen geworden für junge Leute aus Kroatien, Bosnien, Polen, Slowenien, aus dem Baltikum. Internationale Organisationen, Repräsentanzen der UN prägen die Stadt. Es weht ein anderer Wind. Schade, wirklich schade, dass ausgerechnet in diese Entwicklung hinein der Fall Fritzl platzt, der an ein anderes Österreich erinnert, und der alte Assoziationen weckt.

Gunter Hofmann, Journalist und Autor, Jahrgang 1942, Dr. phil., seit 1977 bei der Wochenzeitung „Die ZEIT“, seit 1994 Büroleiter in Bonn, seit dem Regierungsumzug in Berlin, einer der angesehensten Beobachter des deutschen Politikbetriebs, jüngste Buchveröffentlichung: „Abschiede, Anfänge. Die Bundesrepublik. Eine Anatomie“.