Ein Sammler der Erinnerung

Von Maike Albath · 29.04.2009
Er war ein Archivar der Zeitgeschichte, ein unermüdlicher Sammler von Briefen, Tagebüchern und Fotografien, er war Dorfschullehrer und Hochschuldozent, ein langsamer Autofahrer, Bewohner eines großen Hauses in Norddeutschland, und vor allem war er Schriftsteller: Walter Kempowski. 1929 in Rostock geboren und 2007 gestorben, hat er bis zum Schluss an seinen historischen Recherchen gearbeitet.
"Ja, wenn ich Lesern begegne, sind die meist enttäuscht. Die stellen sich vor, ich müsste vielleicht ein bisschen größer sein, dann habe ich so eine helle Stimme."

Walter Kempowski, am 29. April 1929 in Rostock geboren, ein zarter, kleiner Herr mit einem gepflegten Schnurrbart. In der Tasche trug er immer einen Kamm, um sich den Scheitel nachzuziehen. Seit seiner Familiengeschichte Tadellöser & Wolff von 1971 zählte er zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern. Mitten im Krieg halten seine Romanfiguren an bürgerlichen Gepflogenheiten fest:

"Zu Mittag gab es tadelloses Rührei. 'Kind, nun iß tüchtig, blöde Hunde werden nicht fett ... ' Schön feucht und Schnittlauch drin. 'Linke Hand am Tellerrand!' Hinterher Wickelkuchen mit warmer Milch. Jija-jija. Das war der wahre Jakob."

Die Literaturkritik hatte für Kempowskis kunstvolle Montagetechnik nichts übrig. Seine Leser verehrten ihn umso mehr und tauchten auch mal unangemeldet an seinem Gartenzaun auf.

"Und dann denken die noch, ich müsste dauernd mit diesen Schnäcken da sprechen, und das tue ich ja gar nicht. Ich sage manchmal "immerhinque" oder irgendwas, aber
eigentlich ist das nicht meine Sprachwelt."

Ulkige Redewendungen, in denen sich ein Zeitgefühl verdichtet, sind von Anfang an Kempowskis Spezialgebiet. Als Sohn eines Reeders behütet aufgewachsen, war er dem Fronteinsatz knapp entgangen, doch 1948 wurde der damals 19-Jährige von einem russischen Militärtribunal der Spionage bezichtigt und in Bautzen eingesperrt. Bis 1956 dauerte die Haft.

"Was machen Sie nun, wenn Sie plötzlich entlassen werden mit dieser wahnsinnigen Vergangenheit, acht Jahre gesessen, sie kommen irgendwohin und sagen, ich habe acht Jahre gesessen, du lieber Himmel nochmal. Da laufen die Leute natürlich weg. Und da musste ich mir erst einen Beruf suchen, und das war damals nicht so ganz einfach. Habe ich erst mal mein Abitur nachgemacht. Ich hatte das ja auch nicht. Mit meinem ausgeruhten Gehirn habe ich dann das Abitur in Göttingen gemacht, in der schönen Stadt. Da war gerade Frühling. Aprilblumen, Magnolien blühten, alles. Und ich schritt tief atmend durch die Straßen der Stadt und guckte mir die hübschen Professorentöchter an."

Statt einer Professorentochter machte Kempowski einer Pastorentochter einen Verlobungsantrag, schloss die Lehrerausbildung ab und wurde Familienvater. Ausgelöst durch seine Bautzener Erfahrung entstand 1969 sein erstes Buch "Im Block, Ein Haftbericht". Auch an einem Hörspiel versuchte er sich. Über Beethoven.

"Es gibt also nur einen Beethoven, aber ne ganze Menge von den Adligen und so – Deutsches Kulturgut ungefähr. Er war ganz schön selbstbewusst. Sein Schicksal war, dass er taub wurde. Dududu, dududu , dududu – Tamtamtam ta, tamtamtamta ..."

Collagen aus Originaltönen – das wollte Kempowski auch in Büchern probieren. Neben der Arbeit an seinen Romanen, aus denen die neunbändige Deutsche Chronik entstand, begann er, kistenweise Briefe, Tagebücher, Notizhefte und Fotoalben zu horten und schaltete sogar Anzeigen mit Sammelaufrufen. Im Laufe der nächsten dreißig Jahre entstand ein kollektives Tagebuch: das Echolot. Es zählt mit knapp 9000 Seiten und zehn Bänden zu den ambitioniertesten Unternehmungen der neueren deutschen Literaturgeschichte.

In den letzten Jahren seines Lebens stellt sich endlich die ersehnte Anerkennung ein – es hagelt Preise und Auszeichnungen. Schwer an Krebs erkrankt, gibt Walter Kempowski 2007 jungen Schriftstellern noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg.

"Immer schön recherchieren. Die Wahrheit schreiben. Nicht rumfaseln. Keinen Ideologien nachhängen, sondern den Tatsachen ins Auge gucken."

Er ist bereits bettlägerig. Seinen stoischen Humor hat er sich bewahrt.

"Ja, geht nun zu Ende, ich bin 78, ist ja Zeit, sich zu verabschieden, ich habe genug getan. War 30 Jahre Pädagoge, hab' 40 Bücher geschrieben. Das reicht allmählich."

Ein paar Wochen hält Walter Kempowski noch durch, bis er am 5. Oktober 2007 von der Bühne abtritt. Seine Bücher sind das Gedächtnis tausender Namenloser.