Ein Roman als Lexikon

14.08.2008
Der Roman erzählt auf ungewöhnliche Weise die Geschichte der 23-jährigen Chinesin Zhuang, die von ihren Eltern zum Englischlernen nach London geschickt wird und sich dort verliebt. In Anlehnung an ihren Spracherwerb ist das Buch wie ein Wörterbuch angeordnet. Darin finden sich Texte zu Einträgen wie Isolieren, Held, Streit, Prostituierte oder Identität.
Seit 20 Jahren schreibt die 35-jährige chinesische Filmemacherin Xiaolu Guo Romane, Gedichte und Essays. Das "Kleine Wörterbuch für Liebende" verfasste sie auf Englisch, nachdem sie gerade einmal drei Jahre lang in London gelebt und Englisch gelernt hatte. Der Roman hatte gleich bei seinem Erscheinen in England 2007 großen Erfolg, wurde für den Orange Broadband Prize for Fiction nominiert und wird in über 20 Sprachen übersetzt.

Die ausgezeichnete deutsche Übersetzung von Anne Rademacher ist äußerlich gestaltet wie ein chinesisches Tagebuch. Der Roman gibt vor, die Aufzeichnungen der 23-jährigen Zhuang zu sein, die von ihren Eltern aus ihrem südchinesischen Heimatdorf zum Englischlernen für ein Jahr nach London geschickt worden ist. Zhuang kann kaum ein Wort Englisch, sie kennt die europäische Kultur nicht, und sie kennt keinen Menschen. Wie findet sich die junge Frau in dieser überwältigenden Fremdheit zurecht? Sie geht in die Sprachenschule, wo sie ob ihrer vermeintlichen Unhöflichkeit — ganz normales, schnörkelloses chinesisches Verhalten — bald verschrien ist. Sie geht ins Kino, wo sie binnen kurzem einen 20 Jahre älteren Engländer, einen resignierten Alt-Hippie, kennen lernt, mit dem sie eine Beziehung eingeht.

Und sie schreibt. Sie sammelt Wörter. Sie liest ihr chinesisch-deutsches Wörterbuch wie andere einen Roman und versucht, Wort für Wort zu lernen. Konsequenterweise ist ihr eigenes Buch wie ein Wörterbuch angeordnet: Jedes Kapitel entspricht einem Lexikon-Eintrag: "alien – fremd, adj., aus einem anderen Land, einer anderen Stadt, aus einem anderen Volk, einer anderen Familie, ausländisch, andersartig, fremdartig, seltsam, unbekannt, ungewohnt, unvertraut." Isolieren, Held, Streit, Prostituierte, Identität, Heim oder Furz sind andere Einträge. Die Begriffe folgen keiner alphabetischen Reihenfolge, sondern den Erfahrungen, die Zhuang täglich macht: mit dem englischen Essen, mit den Umgangsformen, mit der Liebe, mit dem Sex.

Ihre Liebe zu ihrem Freund beginnt mit einem Missverständnis, das weniger ein individuelles als ein kulturelles ist. Zhuang glaubt, bei dem bindungsunwilligen Aussteiger den Halt ihres Lebens gefunden zu haben. Sie zieht bei ihm ein, macht sich abhängig von ihm, klammert und versteht nicht, wozu er seine "Privatsphäre" einfordert und wütend wird, als sie seine Tagebücher gelesen hat: "Warum brauchen Menschen Privatsphäre? (...) In chinesische Familie alle leben zusammen (...) Privatsphäre macht Menschen einsam. Privatsphäre macht Familie kaputt."

Zu Beginn sind die Aufzeichnungen in gebrochenem Englisch (Deutsch) geschrieben. Im Laufe des Jahres lernt Zhuang immer besser Englisch. Mit der Sprache eignet sie sich die fremde Kultur an, ohne sie freilich gänzlich zu absorbieren. Als sie schließlich nach China zurückkehrt, ist sie auch dort nicht mehr ganz heimisch: Sie ist zu einer Wanderin zwischen den Welten geworden.

Bei aller Einsamkeit, die die junge Frau erlebt: Dieser Roman ist auch sehr komisch. Zhuangs (scheinbar) naiver Blick auf die ihr völlig bizarre Kultur macht uns Leserinnen und Lesern unser "Eigenes" fremd und führt anschaulich vor, wie wenig "natürlich" und wie wenig universell Kulturen sind. Das hat eine lange Tradition in der europäischen Literatur — etwa Montesquieus "Perserbriefe" (1720), Herbert Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit" (1983) oder, aktueller und mit inhaltlichen Parallelen zu Guos Roman, Yoko Tawadas "Das nackte Auge" (2004).

Rezensiert von Gertrud Lehnert

Xiaolu Guo: Kleines Wörterbuch für Liebende.
Aus dem Englischen von Anne Rademacher.
München: Albrecht Knaus Verlag 2008, 352 S., €19,95