Ein Rollstuhl findet seinen Weg

Von Dirk Asendorpf · 13.09.2011
Viele Rollstuhlfahrer haben zwar kein Problem damit ihren Elektrorollstuhl zu manövrieren, es gibt jedoch Behinderungen, bei denen es hilfreich wäre, wenn sich der Rollstuhl seinen Weg alleine suchen würde. Dass das einfacher klingt als es ist, musste eine Forschergruppe der Bremer Universität feststellen.
"Guten Tag Rolland.
Guten Tag.
Fahr mich zum Esstisch!
Ich fahre Dich zum Esstisch."

Rolland, das ist der Name eines schwarzen Rollstuhls. Bernd Gersdorf spricht mit ihm, doch eine Gehbehinderung hat er nicht. Der Informatiker gehört zu dem Wissenschaftlerteam der Bremer Universität, das seit 15 Jahren an der Entwicklung einer Rollstuhlsteuerung arbeitet, die auf Zuruf eigenständig ihren Weg findet. Auf Messen und Konferenzen demonstriert Bernd Gersdorf, dass das sogar übers Internet aus vielen Hundert Kilometern Entfernung funktioniert. Kaum hat er seinen Befehl gegeben, ist auf einem Videobild zu sehen, wie sich Rolland in Bewegung setzt.

"Ich fahre Dich zum Esstisch."

Der Esstisch steht in einer Laborwohnung an der Bremer Universität: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad. Alle Räume sind möbliert, Bettwäsche und Handtücher liegen bereit, die Informatiker haben schon manches Wochenende hier verbracht, um Rolland möglichst praxisnah zu testen.

"Ich fahre Dich zum Schreibtisch."

Bevor der Rollstuhl losfahren kann, tritt sein Bordcomputer in Aktion. Rolland muss zunächst klären, wo genau er sich gerade in der Wohnung befindet. Eine eindeutige Positionsangabe durch Satellitendaten oder Magnetstreifen im Fußboden hat er dafür nicht zur Verfügung. Er orientiert sich ähnlich wie ein Mensch. Der Informatiker Christian Mandel hat die Software dafür programmiert:

"An dem Beispiel ‚wo befinde ich mich?’ verwaltet das System eine große Anzahl von möglichen Hypothesen über seine aktuelle Position und jede dieser Hypothesen ist kombiniert mit einer Wahrscheinlichkeit, wie sicher denn das Wissen darüber ist, ob ich mich an dieser Position befinde. Somit wird es versucht nachzuahmen, wie eventuell auch wir Menschen mit diesen Unsicherheiten umgehen."

Eine Software, die Rolland stur auf fest einprogrammierten Bahnen entlang rollen ließe, würde in der Praxis schon dann nicht mehr funktionieren, wenn plötzlich mal ein Einkaufskorb im Weg steht oder ein Möbelstück verrückt wurde. Die gespeicherte Karte der Wohnung, auf die Rolland zurückgreift, stimmt nie hundertprozentig mit der Wirklichkeit überein.

Bevor er losfährt, tastet sein eingebauter Laserscanner deshalb zunächst die Umgebung ab. Dann setzt er sich vorsichtig in Bewegung. Permanent überprüft er dabei, ob seine Hypothese über Raum und Aufenthaltsort tatsächlich stimmt. Solange die meisten Möbel an ihrem gewohnten Platz stehen und nur wenige Hindernisse neu hinzugekommen sind, klappt das gut.

"Wenn auf einmal eine Party im Wohnzimmer ist und 40 Menschenbeine in der Gegend rum stehen und dadurch viele Blickwinkel auf eine Wand, die er vorher kartiert hat, verschattet sind, durch diese Beine kann er nicht mehr Richtung Wand schauen, dann wird er Probleme haben, sich da zu recht zu finden."

Denn Rolland kann ein Stuhlbein nicht von einem Menschenbein oder einer auf dem Fußboden abgestellten Bierflasche unterscheiden. Er erkennt zwar das Hindernis, weiß aber nicht, um was es sich handelt. Doch das ist noch nicht die größte Herausforderung für die Wissenschaftler. Davon ist Christian Mandels Kollege Christoph Stahl überzeugt:

"Das größte Problem an den Systemen, die wir in der Forschung entwickeln, ist, dass die Technologie, die da zugrunde liegt, einfach so komplex ist, dass die Geräte ab und zu mal einen Neustart brauchen oder ein Reset wie man so schön sagt, und dass natürlich die Zielgruppe, die wir da anpeilen – Senioren, hilfsbedürftige Menschen – natürlich am wenigsten in der Lage sind, so was selbstständig wieder zu reparieren.

Jemand, der im Rollstuhl sitzt, der kann nicht mal eben aufstehen und aussteigen und den Rechner neu starten, das geht ja nicht. Und da müssen wir einfach noch viel Zeit und Geld investieren, um die Dinge auf ein Niveau zu bringen, dass man die mal echten Benutzern nach Hause mitgeben kann, dass die mal eine Woche damit experimentieren können, sodass wir dann aber wieder Feedback kriegen, welche Funktionen für die Benutzer wirklich relevant sind, was die sich wünschen und ob die die Dinge überhaupt bedienen können, die wir entwerfen."

Um wirklich praxistauglich zu werden, muss der Rollstuhl rundum robust sein – und bezahlbar. Deshalb ist Bernd Gersdorf immer auf der Suche nach neuen preisgünstigen Komponenten für die elektronische Steuerung:

"Wir arbeiten mit Laserscannern, zwei Stück, je etwa 4000 Euro, das ist für ne Massenanwendung jenseits von Gut und Böse. Die Sensoren, die wir im Auge haben, die kommen aus dem Spielebereich und liegen im Bereich 300 Euro und deutlich darunter. Davon bräuchte man natürlich auch mehrere, aber man liegt schon mal in einer Größenordnung, die dann bezahlbar wird."

Die vollständige Selbststeuerung ist eine große wissenschaftliche Herausforderung. Und langfristig könnten sich damit zum Beispiel Haushaltsroboter eigenständig in einer Wohnung zurechtfinden. Für die allermeisten Rollstuhlfahrer geht es dagegen vor allem um eine sinnvolle Unterstützung beim exakten Manövrieren ihres schweren Gefährts.

"Tatsächlich gibt es einen Patienten, der schon mal mit einem unserer Rollstühle Probe fährt, und der benutzt seinen Kopf-Joystick zum Fahren, weil er in den Händen nicht mehr die Kraft hat und nicht mehr das Feingefühl, um ihn zu steuern. Also bewegt er seinen Kopf und wir schicken die Bewegung per Funk an die Elektronik und steuern den Rollstuhl dann direkt mit dem Kopf."

Automatisch hält Rolland dabei den Mindestabstand zu Wänden und Möbeln ein und umkurvt unerwartete Hindernisse.

"Vielen Dank Rolland!"