Ein Revolutionär

Von Barbara Dobrick |
Jesus kann in vielfältiger Hinsicht als Vorbild genutzt werden. Nur zu einem taugt er ganz und gar nicht: als Vorbild eines Familienvaters. Das schreibt Hans Conrad Zander in seinem Buch „Der erste Single. Jesus, der Familienfeind“.
Jesus ist nicht einmal ein fürsorglicher Sohn gewesen. Im Gegenteil, schreibt Hans Conrad Zander:

„In keinem der vier Evangelien findet sich auch nur ein einziges freundliches Wort Jesu für seine Mutter.“

Jesus sprach seine Mutter nur brüsk mit „Frau“ an, beispielsweise, als er sie vom Kreuz herab einem seiner Jünger anvertraute. Jesus hat die Familie verlassen und forderte auch seine Anhänger dazu auf, alle alten Bindungen zu sprengen. Jesus sei keine Vaterfigur gewesen, sondern ein Revolutionär, einer, der zur Individuation aufrief, konstatiert Zander, und zitiert dazu aus dem Matthäus-Evangelium:

„Wer verlässt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Ehefrau oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der bekommt es hundertfach wieder und das ewige Leben dazu.“

Das gläubige Leben, das Jesus propagiert, ist ein einfaches, aber freies Leben, allerdings keineswegs ein einsames. Jünger und Jüngerinnen bilden eine Gemeinschaft. Sie sind einander nicht untertan und auch Jesus nicht, sie folgen ihm freiwillig, frei von Familienbanden und Versorgungspflichten. Für Hans Conrad Zander war Jesus der erste Single, und seine revolutionäre Botschaft lautete:

„‘Vater unser im Himmel!’ ( ... ) Nicht der Vater auf Erden zählt, sondern der Vater im Himmel. Nicht die Blutsverwandtschaft, sondern die Wahlverwandtschaft.“

Man könnte sagen: An Gott glauben und Jesus folgen, das heißt zu sich selbst kommen, ein geistiges Leben führen zu wollen. Im Lauf der Zeit wurde daraus immer häufiger ein geistliches Leben, denn die revolutionäre Freiheit, die Jesus propagierte, musste gesellschaftlich reguliert werden, sonst wäre sie allzu beunruhigend gewesen.

Hans Conrad Zander, der selbst einst Mönch in einem Dominikanerkloster war, blättert auf intelligente und überaus kurzweilige Weise die Geschichte individualistischer Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu auf. Er weiß viel, aber sein Ton ist nicht belehrend, sondern ironisch unterhaltsam, voller Esprit. Ein Literaturverzeichnis wäre trotzdem nötig gewesen. Das fehlt leider.

Hans Conrad Zander beginnt mit Jesus und erzählt dann von jenen Christen, die sich im dritten Jahrhundert an den Rand der Wüste zurückzogen, dort allein lebten, sich aber zu Geselligkeiten trafen. Besonders interessieren ihn auch jene Frauen, die sich der Entrechtung in einer Ehe und dem so oft tödlichen Joch des Kindbetts entzogen und sich dabei auf das Christentum berufen konnten. Nicht nur in Rom löste das eine regelrechte Frauenbewegung aus. Später machte christlich legitimierter Eigensinn einige Frauen berühmt bis heute: Im 14. Jahrhundert Katharina von Siena beispielsweise, deren Mutter 25 Kinder geboren hatte. Und im 16. Jahrhundert Theresia von Avila.

„Von Theresia von Avila stammt der Satz, den, Wort für Wort genauso, auch Katharina von Siena gesagt haben könnte: ‘Welche Gnade, wenn Gott einer Frau die Tyrannei eines Ehemannes erspart. Sehr oft richtet er ihren Körper zugrunde. Und manchmal auch die Seele.’“

Im Mittelalter wurden die Klöster zu anerkannten Refugien auch für Frauen, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollten. Der christliche Glaube erlaubt die Freiheit von der Familie, vom Clan. Den Muslimen sei das nicht vergönnt, vermerkt Zander. Mohammed hatte zehn Ehefrauen und nach seiner Himmelfahrt brach mörderischer Streit in der muslimischen Urgemeinde aus. Dieser Familienkrieg halte an bis heute, stellt der Autor fest.

Aber zurück zur Freiheit eines Christenmenschen, die Luther einforderte, als sich das Christentum längst so erfolgreich verbreitet hatte, dass die Kirche die Freiheit des Einzelnen negierte. Das Christentum wurde instrumentalisiert, umgedeutet zu einer Religion, die Ehe und Familie heiligt. Aber immer gab es auch jene, die nicht heirateten, für sich keine Familienpflichten akzeptierten: Priester und Ordensleute.

Und damit landet Zander punktgenau in der Gegenwart und bei einem in seinen Augen paradoxen Phänomen: Der revolutionäre Kern von Jesus’ Botschaft, der sich bis heute zeige in Ehe- und Kinderlosigkeit von Priestern und Ordensleuten, wird in jenem Moment vehement in Frage gestellt werde, in dem – jedenfalls hierzulande – Ehe- und Kinderlosigkeit Lebenswirklichkeit großer Teile der Gesellschaft geworden sind. Die Großstädte sind bevölkert von Singles, die allein leben, aber weder zur Keuschheit noch zur Einsamkeit verdammt sind.

„Heißt das, dass jeder ganz normale Single im Grunde ein zweiter Jesus ist? Dies zu behaupten, wäre wohl ein bisschen übertrieben. Aber ein zweiter heiliger Franziskus ist er, ohne es zu wissen schon. 1980 hat Papst Johannes Paul II den heiligen Franz zum Patron des Umweltschutzes ernannt. Das ist er in der Tat. Aber nicht, weil er den Vögeln gepredigt hat, sondern aus einem ganz anderen Grund. In vorbildlicher Weise hat der heilige Franz darauf verzichtet, Kinder in die Welt zu setzen.“

Man könnte sagen, so legt es Hans Conrad Zander jedenfalls nah: Jesu Botschaft ist nach 2000 Jahren wirklich angekommen. Wer ihm ins Singlesein folgt, gewinnt Freiheit, und wer keine Kinder bekommt, entlastet die durch Überbevölkerung gefährdete Schöpfung.

Die christlichen Kirchen haben damit allerdings wenig am Hut, die katholische schon gar nicht. Beherzt seziert Zander deren Bemühungen, die Dreifaltigkeit oder Maria und Josef theologisch so umzudeuten, dass Ehe und Familie eben doch zu zentralen christlichen Werten wurden. Deshalb wird Zanders Buch manchen nicht gefallen, vor allem nicht dem Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner.

Dessen Äußerung, dass nur ein Vater oder eine Mutter „Abbild des trinitarischen Gottes“ sein könnten, attackiert Zander mit solcher Lust an satirischer Schärfe, dass er hier etwas weniger subtil ist als bei anderen ironischen Seitenhieben auf Theologen der Gegenwart. Aber Meisner dürfte das Buch ohnehin gar nicht lustig finden, während man es allen anderen nur wärmstens an Herz legen kann, als amüsante, eigenwillige und anregende Lektüre.

Hans Conrad Zander: Der erste Single. Jesus, der Familienfeind
Gütersloher Verlagshaus, 222 Seiten, 17,99 Euro