Ein repräsentatives Bild des Jahrhundertlyrikers

Rezensiert von Helmut Böttiger |
Ralph Dutli hat hundert Gedichte des Nobelpreisträgers Joseph Brodsky zusammengestellt und auch selbst übersetzt. Dabei hat er vor allem dem letzten Band, der in Deutschland bisher so gut wie unbekannt war, viel Raum gegeben. „Brief in die Oase“ ermöglicht dem Leser ein repräsentatives Bild dieses Jahrhundertlyrikers.
Joseph Brodsky ist ein Mythos. Er hat 1987 den Nobelpreis erhalten, und um seine Biographie rankt sich alles, was man sich unter einem Dichterschicksal vorstellt: 1940 in Leningrad geboren, Prozess wegen „Parasitentums“ 1964, Verbannung und Zwangsarbeit im russischen Norden für fünf Jahre, nach achtzehn Monaten wegen westlicher Proteste wieder Rückkehr nach Leningrad, 1972 Ausweisung aus der Sowjetunion, Exil in den USA, regelmäßige Besuche in Venedig, Florenz und Rom, den Kultstätten des Abendlands, herzkrank, 1996 mit 55 Jahren gestorben.

Zu seinen Lebzeiten wurden fünf Gedichtbände veröffentlicht, ein sechster, früh in den USA erschienener, wurde von Brodsky später nicht autorisiert. Kurz nach seinem Tod erschien aber der Band „Landschaft mit Hochwasser“, den er selbst noch konzipiert hatte.

Dies ist zwar kein schmales, aber doch überschaubares Werk. Um so erstaunlicher ist es, dass es im deutschen Sprachraum bisher verstreut und unvollständig vorlag. Ralph Dutli hat nun hundert Gedichte zusammengestellt und zu drei Vierteln auch selbst übersetzt, die ein repräsentatives Bild dieses Jahrhundertlyrikers geben. Dabei hat er vor allem dem letzten Band, der in Deutschland bisher so gut wie unbekannt war, viel Raum gegeben.

Man kennt Ralph Dutli, den Übersetzer und Herausgeber, vor allem als denjenigen, der die große Gesamtausgabe Ossip Mandelstams in Deutschland verantwortet hat. Dass er jetzt Joseph Brodsky in einem umfassenden Band vorstellt, ist konsequent: Brodsky hat sich mehrfach auf Mandelstam berufen, beide eint das große Thema des Verbanntseins, des poetischen Abseits angesichts des hegemonialen sowjetischen Raums, und Mandelstams „Sehnsucht nach Weltkultur“ ist zu Brodskys Leitmotiv geworden.

Obwohl er virtuos und umfassend aus der russischen Tradition schöpft (die Vielfalt der Reimmöglichkeiten dieser Sprache ist im Deutschen unmöglich wiederzugeben!), ist er gleichzeitig nicht ohne die amerikanische Alltagslyrik und vor allem nicht ohne Ovid, Dante und den großen englischen Renaissance-Metaphysiker John Donne zu denken. Brodsky Lyrik war von vornherein „kosmopolitisch“ – das schlimmste Verdikt, dem man sich in der Sowjetunion ausgesetzt sehen konnte. Und sie war auch „unrein“: Sie vermengte die verschiedensten Einflüsse, sie stellte Pathos neben Alltagsslang, verdichtete Wortkompositionen neben einfache Rede.

Brodsky fasste alle Erscheinungsformen der Welt in Gedichte und transzendierte dadurch die menschliche Wahrnehmung: in seiner Nobelpreisrede 1987 beschwor er die Poesie als die „höchste Form der Sprache“ und als „die Bestimmung unserer Gattung“.

Die Figur des Odysseus hat er zeit seines Lebens als Identifikationsfigur beschworen: eine Gestalt des immerwährenden Exils, des Unterwegsseins. Dies zeitigt die Motive von Brodskys Dichtung: Einsamkeit, Verlorenheit, aber auch die Sinnlichkeit im Jetzt. Die Zukunft erscheint bei ihm stets als „Kälte“, sie ist nie eine Verheißung, Brodsky ist dezidiert antiutopisch. Und daraus bezieht er seine enorme Kraft. In einem seiner großen Gedichte heißt es: „Vom Ganzen des Menschen bleibt – als Teil – / bloß Sprache übrig.“ In dieser Sprache ist aber auf paradoxe Weise alles enthalten, was den Menschen ausmacht.

Joseph Brodsky: Brief in die Oase
Hundert Gedichte, hrsg. von Ralph Dutli
Hanser Verlag, München. 299 Seiten