Ein radikal entblößender Männerblick

Otto Muellers "Am Ufer der Moritzburger Seen"
Otto Muellers "Am Ufer der Moritzburger Seen" © LehmbruckMuseum / Jürgen Diemer
Von Ulrike Gondorf · 15.11.2012
Sie sind verlockend und unnahbar zugleich: Frauenakte in der freien Natur gehören zu den wichtigsten Motiven im Werk des Malers Otto Mueller. In Duisburg ist nun eine umfangreiche Retrospektive des Künstlers zu sehen - mit Gemälden, Lithografien und Zeichnungen.
Ein schwarzer Haarschopf, dunkle, schräg gestellte Augen, hohe Wangenknochen, schmale, überlange Körper, meist weiblich, fast immer nackt - typisch Otto Mueller. Der Künstler hat eine Eigenart entwickelt, die sich einprägt und seine Bilder charakteristisch und wiedererkennbar macht. Vor zwei Jahren hat sich in Weimar zum 80. Todestag des Künstlers die Otto-Mueller-Gesellschaft gegründet, die sich nun rührig für dieses Werk einsetzen will.

Erstes großes Projekt ist die Retrospektive "Einfach. Eigen. Einzig", die Gemälde und Papierarbeiten aus Privatbesitz, zum großen Teil aus der Sammlung des Unternehmers Dieter W. Posselt, umfasst. Vor allem im Bereich der Grafik sind Spitzenstücke darunter. Dennoch ist die Präsentation von Werken, die danach, durchs Museum geadelt, eventuell auf dem Kunstmarkt landen könnten, in einem öffentlich finanzierten Haus natürlich heikel. Immerhin hat das Lehmbruck-Museum die Ausstellung durch eigene und hinzu geliehene Museumsbilder signifikant ergänzt und ihr eine eigene Perspektive gegeben: im Dialog mit Wilhelm Lehmbruck. Im Fokus steht dabei das zentrale Thema Otto Muellers, sein Frauenbild.

"Ich glaube, dass die Aktualität darin besteht, dass möglicherweise sein Frauenbild eines war, das nach 1968 hochaktuell wurde, ein befreiendes Frauenbild ... "

... sagt Raimund Stecker, Direktor des Lehmbruck-Museums, mit Blick auf Muellers androgyne, ihre Sexualität manchmal provozierend zur Schau stellende Modelle, die dem Betrachter meist direkt ins Auge sehen, verlockend und unnahbar zugleich.

"Das ist eben Otto Mueller, und das Introvertierte, die Frau nicht mehr sich exponieren, sondern die Frau bei sich sein, ist Lehmbruck."

Interessant, dass in den 100 Jahren seit ihrer Entstehung der Blick auf die Werke sich wahrscheinlich mehrfach gewandelt hat. Die selbstverständlich-gelassene Anwesenheit der Lehmbruck-Frauen erscheint heute viel moderner als Muellers im Tabubruch radikalerer, aber oft auch unangenehm entblößender Männerblick. Progressiv bleibt der Maler unstreitig in der Wahl seiner Mittel. Raimund Stecker hebt hervor:

"Maltechnisch ist es klar, dass er zum Beispiel mit unkonventionellen Malmaterialien, Untergrundmaterialien gearbeitet hat, um eine gewisse Pauperisierung in die Kunst hinein zu bringen, was ja automatisch eine antibürgerliche Position ist."

Freskohaft stumpfe Leimfarbe und grober Rupfen als Malgrund geben den Bildern eine sinnlich-haptische Qualität. Muellers Talent für raffinierte Farbwirkungen, delikate Schattierungen und subtile Kontraste bringt das rohe Material erst recht zur Wirkung. Höhepunkte seines Schaffens sind hier die Bilder, die er um 1910 bei gemeinsamen Studienausflügen mit seinen Malerfreunden der "Brücke" geschaffen hat – an den Moritzburger Seen in der Nähe von Dresden.

"Diese Naturverbundenheit, die man in der Kunst eigentlich vorher nur bei Gauguin kennt, dass er das nach Deutschland geholt, dann mit den Expressionisten gelebt hat und in die Kunst hinein gebracht hat, das ist das, was ihn aktuell macht, weil es Themen sind: Ist der Mensch Herrscher oder Teil der Natur? Bei Otto Mueller ist er ganz klar Teil der Natur, und ich glaube, das ist eine Aktualität, die wir auch unter ökologischen Gesichtspunkten immer wieder zu erinnern haben."

Auf dem Weg durch die Ausstellung begegnet man natürlich auch den Bildern, die dem Maler den Beinamen "Zigeuner-Mueller" eingetragen haben: Menschen, Dörfer und Szenen, die er im letzten Jahrzehnt seines Lebens auf seinen Reisen auf den Balkan gezeichnet und dann in Gemälde und Lithographien umgesetzt hat. Seine Palette ist dunkler und erdiger geworden, aber seine Malweise, die die Gegenstände auf einfache geometrische Formen zurückführt, hat sich in den gut drei Jahrzehnten seines Schaffens erstaunlich wenig verändert.

"Es war immer jemand, der sehr klar und offensiv in seine Malsituation hineingegangen ist. Es gibt motivisch einen Wandel, aber es gibt eigentlich keinen atmosphärischen Wandel."

Eine Auswahl biografischer Materialien und Fotografien rundet die Ausstellung ab. Eine Fülle von Informationen bietet außerdem der dreibändige Katalog, der sich in Bildband, Biografie und Aufsatz-Sammlung unterteilt. Gut möglich übrigens, dass Otto Mueller nach dieser Ausstellung im Lehmbruck-Museum stärker präsent bleibt, als er es bisher in der Sammlung war. Der Haupt-Leihgeber Dieter W. Posselt hat eine, so Museumsdirektor Stecker, "großzügige Offerte" gemacht.

"Es gibt ein Angebot von Herrn Posselt an das Lehmbruck-Museum für den Erwerb und das Geschenktbekommen weiterer Arbeiten von Otto Mueller. Da müssen wir einfach schauen, ob der finanzielle Spielraum reicht. Wir hoffen, dass wir es hinbekommen."

Die Ausstellung "Einfach. Eigen. Einzig: Otto Mueller" ist vom 16. November 2012 bis zum 24. Februar 2013 im Lehmbruck-Museum in Duisburg zu sehen.
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