Ein quecksilbrig vitaler Text

Von Marko Martin · 25.10.2013
Nach mehr als fünf Jahrzehnten wird ein Roman des 1982 jung verstorbenen französischen Schriftstellers Georges Perec veröffentlicht. "Der Condottiere" ist eine spannende Kriminalgeschichte und eine inspirierende Lektüre ohne jegliche Patina.
Analogien herzustellen zwischen Autoren ist seit jeher ein zweifelhaftes Verfahren: Wird hier nicht etwas in den Vergleich gezwungen, was doch singulär ist? Nun handelt es sich bei dem 1982 im frühen Alter von 46 Jahren verstorbenen Georges Perec jedoch um einen derart eigenwilligen Solitär, dass sein Leben und Werk durchaus an jenes des Chilenen Roberto Bolano erinnert. Beide hatten ein Faible für randständige Künstlerfiguren, und beiden war es gelungen, in der ihnen denkbar knapp zugemessenen Lebenszeit ein Werk zu schaffen, das sich den jeweils dominierenden Literaturstilen verweigerte, jedoch so manchen Aspekt innovativ aufgriff.

Wurde Lateinamerikas "magischer Realismus" durch den in Barcelona lebenden Bolano rational, aber auch skurril geerdet, so hat sich Georges Perec – 1936 in Paris als Sohn jüdisch-polnischer Emigranten-Eltern geboren, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust nicht überlebten – vom damals tonangebenden nouveau roman gerade soviel an Detailpräzision geholt, wie für sein bis heute beunruhigend doppelbödiges Werk notwendig war. Und ebenso wie nach Roberto Bolanos Tod im Jahre 2003 tauchen nun auch im Falle von Georges Perec regelmäßig neue Manuskripte auf: Eines wurde in Sarajewo gefunden, ein anderes - der hier vorliegende Roman mit dem Titel "Der Condottiere" - fand sich in den Kartons eines französischen Journalisten.

Georges Perec hatte den verblüffend konzisen Text bereits mit Anfang zwanzig geschrieben, und die schnelle Nacherzählbarkeit der Geschichte sollte nicht täuschen. Ein versierter Kunstfälscher namens Gaspard Winckler (Perec-Leser kennen den Protagonisten bereits aus anderen Romanen) scheitert plötzlich bei der Imitation von Antonello da Messinas berühmtem Gemälde "Der Condottiere" und gerät darüber so in Wut, dass er seinen wohlhabenden Auftraggeber umbringt. Die Geburt des wahren Künstlers aus dem Geist blutiger Raserei oder ein hochkomplexes Spiel mit der (Un-)Möglichkeit, sich der Tradition zu verweigern?

Freilich ließe sich das Buch auch ganz einfach als spannenden Kriminalfall lesen. Was das komplexe Lesevergnügen jedoch zusätzlich steigert, ist das kenntnisreiche Nachwort des in Paris lebenden Übersetzers und Herausgebers Jürgen Ritte, der seinerseits längst das Erbe der großen deutsch-französischen Kulturvermittler angetreten hat. Georges Perec, den abgründig freundlichen Mann mit dem markanten Vollbart, der in seinen anderen Büchern ja bereits in der Welt der Dinge zum skrupulösen Spurensammler geworden war, hätte es bestimmt gefreut, mit welcher Sorgfalt hier eine quecksilbrig vital gebliebene Trouvaille aus dem Jahre 1958 nun den Lesern von heute präsentiert wird. Denn nichts geht verloren, nichts.

Georges Perec: Der Condottiere
Aus dem Französischen, mit einem Nachwort von Jürgen Ritte
Hanser Verlag, München 2012,
160 Seiten, 17, 90 Euro
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