Ein Quartier erinnert sich

Von Susanne Arlt · 07.11.2008
Halberstadt zählte einst zu den bedeutendsten jüdischen Zentren Mitteleuropas. Symbol hierfür war die prachtvolle Barocksynagoge. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die jüdische Gemeinde ausgelöscht, die Synagoge war abgetragen. Doch einige Halberstädter engagieren sich nun, damit die Erinnerung an das jüdische Leben in der Stadt nicht ganz verblasst.
Eine hohe Mauer aus Sandstein versperrt den Blick. Glasscherben liegen auf den Steinen. Nicht jeder scheint willkommen. Werner Hartmann schon. Bedächtig öffnet der 85-jährige Halberstädter die schwere Holztür, blinzelt kurz in die Herbstsonne, setzt sich seine schwarze Kippa auf den Kopf und schließt dann das Tor. Andächtige Stille. 350 Grabsteine stehen nebeneinander in langen Reihen. Efeu wuchert über manche Steinplatten. Sie alle zeigen in eine Richtung. Jedes Grab ist so ausgerichtet, dass die Toten nach Osten, Richtung Jerusalem gebettet sind, erklärt Werner Hartmann.

"Jedes jüdische Mitglied der Gemeinde kriegt einen Grabstein. Ob arm, ob reich, alle kriegen sie einen Grabstein. Die Kinder kriegen kleine und die armen Leute auch, aber es kriegt jeder einen Grabstein. Das Besondere an so einem Friedhof ist die Symbolik und die Tatsache, dass jeder Besucher, dessen Angehöriger ihn hier besucht, einen Stein hinterlegen muss auf dem Grabstein."

Viele Kieselsteine liegen nicht auf den Grabsteinen. Warum auch, sagt Hartmann und zieht die Schultern hoch. Wer soll die Toten besuchen? In Halberstadt leben schon lange keine Juden mehr. Die Nazis haben über 400 von ihnen ermordet. Die letzten 142 Gemeindemitglieder wurden im April und im November 1942 nach Warschau und Theresienstadt deportiert. Danach verliert sich ihre Spur. Nicht ein einziger der Haberstädter Juden kehrte in seine Heimatstadt zurück. Von vielen weiß man bis heute nicht, wo und wann sie ermordet wurden. Werner Hartmann atmet die kühle Herbstluft ein, schaut nachdenklich auf die Gräber. Der jüdische Friedhof am Berge stammt aus dem 17. Jahrhundert. Das Judentum in Halberstadt besitzt eine lange Tradition. Aus Halle vertrieben kamen die ersten Juden im Jahr 1246 in die Stadt am Harz.

Hartmann läuft auf einen großen Grabstein zu, rupft mit der rechten Hand ein Stück Efeu weg. Darunter kommt eine Taube zum Vorschein, eingemeißelt in den grauen Grabstein.

"Hier ist ein Symbol eine Taube. Die Juden glauben, dass bei dem Verstorbenen die Seele nach Palästina fliegt und der Leib bleibt ha hier. Finde ich einen sehr schönen Glauben. Die Seele fliegt mit der Taube in das Land der Väter und der Körper bleibt hier auf dem Friedhof begraben, wo eben der Leichnam liegt."

Werner Hartmann zeigt auf die umliegenden Grabsteine. Dort sind noch mehr Symbole eingemeißelt: Kronen, segnende Hände, ein Löwe. Die Krone soll an einen sozial engagierten Menschen erinnern, die segnenden Hände an einen Rabbiner, erklärt der 85-Jährige. Das Wissen über jüdische Symbolik hat Werner Hartmann sich selbst beigebracht. In seiner Schulzeit habe man ihn andere Dinge über Juden gelehrt. Erst als Werner Hartmann Jahre später an einer Tuberkulose erkrankte, seiner Arbeit als Berufsschullehrer nicht mehr nachgehen konnte, Bücher über die Stadtgeschichte wälzte, fing er an, Fragen zu stellen. Halberstadt war einst ein bedeutendes jüdisches Zentrum Mitteleuropas. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Gemeinde ausgelöscht. Werner Hartmann begab sich auf Spurensuche und begann bei den drei jüdischen Friedhöfen der Stadt.

Als er zum ersten Mal den Friedhof am Berge betrat, wuchs das Unkraut meterhoch und kreuz und quer, erinnert sich der Halberstädter. Mit Freunden der evangelischen Kirche brachte er den Abfall weg, befreite die Gräber von Efeu und Laub. Werner Hartmann fotografierte jeden Stein und ließ die Inschriften von drei Theologiestudenten übersetzen. Dann bat er seinen Freund, den evangelischen Pfarrer Martin Gabriel, sich mit der jüdischen Gemeinde in Israel in Verbindung zu setzen. Zwölf Stasimitarbeiter überwachten damals die Recherchen von Werner Hartmann und Pfarrer Martin Gabriel. Einschüchtern ließen sich die beiden nicht.

"Ich wollte mein Gewissen erleichtern als Deutscher, die so viel Schuld auf sich geladen haben, um etwas gut zu machen an den Juden, die ja mir und uns gar nichts getan haben. Ich wollte einfach mein Gewissen erleichtern und was für die jüdische Gemeinschaft tun."

In der Unterstadt, dem jüdischen Viertel von Halberstadt, zwischen Bakenstraße und Judenstraße, Rosenwinkel und Seidenbeutel stand einst eine der prachtvollsten Barocksynagogen in ganz Deutschland. Heute existiert sie nur noch auf Fotos. Man sieht ihre Kuppel über Dächer ragen. Als sollte sie vor Feinden geschützt werden, lag sie eingebettet zwischen Fachwerkhäusern. Dieser Schutzwall rette sie zwar vor 70 Jahren in der Pogromnacht. Doch wenige Tage danach mussten die jüdischen Halberstädter ihre Synagoge Stein für Stein selbst abtragen.

Nur ein paar Mauerreste blieben stehen, das Gelände verwahrloste, wilde Sträucher wuchsen kreuz und quer, die Menschen nutzten den Ort als Abstellplatz. Jetzt, Ende November, soll die Synagoge in ihren Grundrissen wieder entstehen. Der Künstler Olaf Wegewitz hat eine Raumskulptur entworfen, einen Denk-Ort.

"Respekt und Würde, das ist für mich die wichtigste Botschaft. Und ich will das auch wieder erzeugen an diesem Ort. Es gibt bei allen Menschen so eine Art Achtung vor Sakralem. Das kann nur durch Eifer zerstört werden, durch Übereifer. Und ich will, dass diese Achtung bleibt. Also dass der Mensch gleichgültig welcher Religion das respektiert und achtet und das kann man eigentlich nur machen, indem man an einem zerstörten Ort diesen Respekt anmahnt."

Die wichtigsten Orte der Synagoge, der Thora-Schrein und das Almemor, auf dem der Rabbiner die Thorarolle vorlas, werden durch Betonplatten mit kreisrunden Vertiefungen hervorgehoben. Ansonsten ergreifen Pflanzen Besitz von dem Gelände. Mit der gewaltsamen Zerstörung des Tempels in Halberstadt, sagt Olaf Wegewitz, sollte jüdische Erinnerungskultur ausgelöscht werden. Das aber sei den Nazis nicht wirklich gelungen. Der Erdboden behielt die Erinnerung. Wilde Kräuter befriedeten den Ort und daran knüpft seine Idee an. Olaf Wegewitz siedelte biblische Pflanzen an: zum Beispiel Brombeeren, Diesteln, Krokusse, Rosen und eine Weide.

Vor 13 Jahren gründete der Mendelssohnnachfahre Julius Schöps zusammen mit der Historikerin Jutta Dick die Moses-Mendelssohn-Akademie in Halberstadt. Die Arbeit der Einrichtung wendet sich vor allem an ein Laienpublikum, sagt Direktorin Jutta Dick. Zu den Angeboten zählen Fortbildungen für Lehrer und Schüler. Kunstausstellungen, Konzerte und Lesungen.

"Der Grundgedanke ist, die jüdische Geschichte als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte zu vermitteln, nicht als etwas separates, oder exotisches. Und auch die Geschichte der Juden in Deutschland als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte. Und da steht im Mittelpunkt die Juden als Handelnde, die Staat, Gesellschaft las mitgestaltende Bürger, darzustellen. Und wegzukommen von diesem Bild, dass die Juden nur Opfer sind."

Aufgrund ihrer Topografie zeige die Stadt besonders eindrücklich, wie die Geschichte der Juden als Minderheit in einer Bischofsstadt wie Halberstadt funktioniert habe. Ein paar Jahre später entstand darum auch das Berend-Lehmann-Museum. Berend Lehmann diente als sogenannter Hoffaktor dem sächsischen Kurfürsten August dem Starken. Er beschaffte ihm Kredite und Waren, trug maßgeblich zu seiner Macht bei. Trotzdem erhielt Berend kein Wohnrecht in Dresden, er ließ sich darum 1690 in Halberstadt nieder. Der Hofjude förderte das religiöse Leben in der Stadt, stiftete das bekannte Rabbiner-Seminar und die prachtvolle Barocksynagoge. Im 18. Jahrhundert war die jüdische Gemeinde in Halberstadt eine der größten in ganz Deutschland. Neben Frankfurt am Main war Halberstadt das Zentrum der jüdischen Orthodoxie in Deutschland. Das Museum ist heute in dem zweistöckigen Gebäude eingerichtet, in dem sich früher die Gemeindemikwe, das rituelle Reinigungsbad, befand. Es dokumentiert ein Kapitel der Geschichte des Absolutismus, aber auch der preußischen Toleranzpolitik. Sicher ist das Leben der jüdischen Bewohner zu keiner Zeit. Immer wieder werden sie vertrieben, immer wieder zerstören Bürger ihre Synagogen, immer wieder verschwinden Juden plötzlich aus der Stadt.

"Na ja was habt ihr denn da über Kowalski, Henni, da drinne stehen? Ja hier im Einwohnerbuch von 1940 da steht Kowalski, Henni, die Adresse Unter den Weiden 9."
Die Schüler Dennis, Fabrice, Christoph und Sebastian sitzen um einen rechteckigen Tisch in der Moses-Mendelssohn-Akademie. Vor ihnen liegen aufgeschlagen die Einwohnerbücher aus den Jahren 1933 bis 1942, Auszüge aus dem Theresienstädter-Gedenkbuch und Bücher von Werner Hartmann über die Juden in Halberstadt. Von mindestens 150 deportierten Juden, sagt Dennis, wissen wir bis heute nichts über ihr Schicksal. Das Stadtarchiv wurde damals zerbombt. In dem großen Gedenkbuch des Bundesarchivs in Koblenz finden die meisten deportierten Halberstädter darum keine Erwähnung. Die Gymnasiasten wollen bei der Recherche helfen. In zwei Schüben wurden die Halberstädter Juden deportiert. Zuerst nach Warschau, später nach Theresienstadt.

Die Gymnasiasten vergleichen die Daten des Bundesarchivs im Computer mit den eigenen. Eine Sisyphusarbeit. Die Erfolgsquote nahezu null. Die vier Schüler vom Martineum-Gymnasium haben sich freiwillig für das Thema gemeldet. Eine Unterrichtsstunde pro Woche verbringen sie seit Schulbeginn in der Moses-Mendelssohn-Akademie und recherchieren nach Namen, Orten und Daten. Unberührt lässt uns diese Arbeit nicht, sagt der 18-jährige Fabrice.

"Also erst Mal ist das natürlich sehr sachlich, weil man hat ja nur die Namen vor sich und selber dazu habe ich auch keinen Bezug, aber wenn man so erfährt, manche Familien, wo dann noch die Kinder mitdeportiert wurden oder die getrennt wurden, das ist schon sehr berührend teilweise. Also auf jeden Fall lernt man draus, dass man möglichst verhindern sollte, dass so was je wieder geschieht."

Genau darin sieht Jutta Dick die Aufgaben der Moses-Mendelssohn-Akademie. Die ehemals jüdischen Gemeindegebäude, dazu zählen die Klaussynagoge, das Gelände der Barocksynagoge sowie das Berend-Lehmann-Museum, sind heute im Besitz der Akademie. Die jüdische Bankiersfamilie Nussbaum kaufte die Häuser der Jewish Claims Conference ab und stellte sie der Stiftung zur Verfügung. Mit der Auflage, Antisemitismus entgegenzuwirken und Grundlagen der deutschen-jüdischen Geschichte zu vermitteln. Als die Familie Nussbaum Anfang der 90er Jahre sehr viele Immobilien in Halberstadt zurück erhielt, habe das nicht jeder gerne gesehen, sagt Jutta Dick.

"Rafael Nussbaum sah sich im Zuge der Restitution des Eigentums seiner Familie auch mit antisemitischen Anwürfen konfrontiert. Jetzt nehmen uns die Juden wieder alles weg, es wurde als unberechtigt empfunden, dass das Eigentum an die Familie zurückging, und erkannte darin die Notwendigkeit etwas dagegen zu tun."

Juristisch gesehen ist die Akademie eine Stiftung bürgerlichen Rechts. Sie finanziert sich aus Mitteln des Landes, der Stadt und Sponsorengeldern. Sollte eines Tages einer der privaten Förderer aussteigen, die Arbeit der Akademie stünde auf der Kippe, sagt Jutta Dick. Denn die 90.000 Euro von staatlicher Seite sichern nicht die Grundfunktion der Akademie. Im Klartext bedeutet das: Ohne private Zuwendungen ist die Akademie nicht arbeitsfähig. Jahrelang ging das so. Inzwischen sind die beiden Hauptsponsoren so verärgert, dass sie drohen, auszusteigen. Sie sehen die Arbeit der Akademie nicht entsprechend gewürdigt, sagt Jutta Dick. Das Kultusministerium argumentiert dagegen. Das Land honoriere sehr wohl die Arbeit, die die Akademie leiste. Aber mehr Geld sei einfach nicht drin, sagt der Kultus-Staatssekretär Winfried Willems. Im Endeffekt geht es um ein paar Zehntausend Euro, sagt Jutta Dick.

"Es ist dieser Punkt, dass die jüdische Geschichte eben nicht als integraler Bestandteil wahrgenommen wird, es sind unser Dom, unsere Martinikirche, und die Juden da unten. Ich glaube, es ist das Verständnis da, dass das dann eben auch von jüdischer Seite finanziert werden soll. Und das finde ich neben den finanziellen Problemen, die sich für unsere alltägliche Arbeit aus der Haltung ergeben eben auch grundsätzlich sehr irritierend, dass diese Abgrenzung und Ausgrenzung sich auch auf dieser Verwaltungsebene zeigt."

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, ging der zehnjährige Werner Hartmann in Halberstadt zum Domgymnasium. An den Morgen nach der sogenannten Reichskristallnacht kann er sich noch gut erinnern. Auf seinem Schulweg kam er immer an dem größten Warenhaus der Stadt vorbei. Sein Besitzer Willy Cohn, erzählt Hartmann, sei ein angesehener Bürger der Stadt gewesen. Jedes Jahr ließ der sozial engagierte Jude 20 junge Christen für ihre Konfirmation einkleiden. Im Rathaus vertrat er die Sozialdemokratische Partei. Genutzt habe ihm dies in der Nacht des neunten Novembers nichts. Aus dem geachteten Bürger wurde über Nacht ein geächteter Volksfeind.

"Und das traurige war, in der Nacht wurde auch dieses Warenhaus zerstört von den Nazibanden, mit dem Traktor wurde da in die Schaufenster gefahren. Und alles was drin war, wurde zerstört, mutwillig kaputt gemacht."

Nach der Machtergreifung durch Nationalsozialisten konnten sich einige Hundert ins Ausland retten. Die meisten gingen ins gelobte Land, damals noch Palästina. Doch auch von ihnen kehrte keiner nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, bedauert Werner Hartmann.

"Es kommt keiner zurück und es ist auch keiner zurückgekommen, es tut mir schon weh, also es gab 750 Jahre Halberstädter Juden, aber nun gibt es ja keine mehr. Leider, ist schade drum."

Judith Biran hat überlebt. Auch ihre fünf Geschwister. Judith Biran lebt seit fast sieben Jahrzehnten in Tel Aviv, doch die Gedanken an die Heimat ließen sie nie richtig los. Sie war eine der ersten, die nach der Wende von der neuen in die alte Heimat reiste. Seitdem besucht die 89-Jährige mindestens einmal im Jahr Halberstadt. Sie erzählt Schülern von dem Terror von damals und besucht Freunde wie Werner Hartmann. Vor 70 Jahren lebte ihre Familie in einem schmalen Fachwerkhaus direkt am Fuße des Doms, im Düsteren Graben Nummer 26. Heute steht dort ein großer Parkplatz. Nichts erinnert hier mehr an die Vergangenheit.

"Ja, das sind wehe Erinnerungen, aber es ist auch gut, wenn man darüber sprechen kann. Es gibt nicht mehr viele Leute, die sich daran erinnern. Ich liege manchmal im Bett und denke, guck mal du weißt es noch, aber wenn man dir das erzählt hätte, wäre es auch für dich unglaublich gewesen, denn es ist dir selbst unglaublich, konnte denn so was passieren. Es ist ja selbst unglaublich, wie kannst du da verlangen, dass andere das glauben, das junge Leute …"

Judith Biran fährt sich verstohlen mit der Hand über ihre Augen. Die 89-Jährige ist eine zierliche Frau mit feinen Gesichtszügen, höchstens einen Meter 55 groß. Silberfarbenes Haar umrahmt ihren Kopf, in dem ein phänomenales Gedächtnis steckt. An viele Details kann ich mich erinnern als wäre es gestern gewesen, sagt sie. Zum Beispiel an die jüdische Schule in Westendorf Nummer 15. Im Vorderhaus haben die Lehrer gewohnt. Dann legt sie los: Frau Bamberger hat möblierte Zimmer im ersten Stock vermietet. Unterm Dach wohnte Familie Eschwege und in der Mitte der Schuldirektor Lundner mit seiner Ehefrau und den Kindern. Die ehemalige Schule, ein dreistöckiger Klinkerbau, steht im Hinterhof.

"Oben sehen Sie noch den Davidstern. Ganz oben war ne Uhr, war auch ein Davidstern und ne Uhr dran. Im muss mal gucken ob da noch offen ist."

Im Erdgeschoss lag die Aula, darüber die Klassenzimmer. Judith Biran steigt die drei Stufen hoch und rüttelt an der blauen Eingangstür.

"Nein, da drin war ne große Schüssel, da haben wir uns die Hände gewaschen, und da sind wir rein, sind die Treppen raufgegangen zu den Klassenzimmern. Und hinten war ein Garten. Die Kindheit besteht nur noch aus Erinnerung, aber wenn ich hier bin, ich fühle diese, ich fühle das noch, wie ich mich gefühlt habe damals."

Und damals in ihrer Kindheit habe sie sich gut gefühlt, erinnert sich Judith Biran. Die Unterstadt, in der sie mit ihrer Familie lebte, war das jüdische Viertel. Die meisten, die hier lebten, kannten sich gut. Auf den Straßen spielte die Kinder miteinander, egal welcher Religion. Doch als die Nazis 1933 die Macht ergriffen, wurde das schlagartig anders.

"Das kam gleich nach den Wahlen 33, da haben wir schon gelitten. Da haben die Kinder schon nicht mit uns spielen wollen. Und nach den Wahlen hat schon ein Junge gesagt, hat mich geschupst, du nicht. Und da habe ich gesagt, warum ich nicht, du bist Jude."

Woher dieser plötzliche Hass kam, Judith Biran schüttelt den Kopf. Wenige Wochen nach der Pogromnacht konnte die siebzehnjährige Judith mit Hilfe einer jüdischen Vereinigung für junge Mädchen nach Palästina flüchten. Ihre Eltern sah sie niemals wieder. Und auch viele andere jüdische Halberstädter nicht. Ihre Namen sind auf Betonstelen eingeritzt. Das Mahnmal steht auf dem Domplatz. Von dort aus begann die Deportation.

"Das sind die Steine. Da sind alle Namen drauf. Ich habe alle gekannt, ich habe alle gekannt. Königshofer, Bär, Max Bär, die hatten eine Villa in der Spiegelstraße. Neben dem Gefängnis hatten die eine Villa. Samuel Bär, Willy Cohn. … Solange es einen nicht direkt getroffen hat, hat man immer gedacht, das wird sicher wieder. Man konnte das nicht glauben. Man konnte das nicht glauben, dass es so kommen wird."

Am 23. November 1942 deportierten die Nazis die letzten Juden aus Halberstadt. Es waren zumeist Alte, Kranke, Frauen und Kinder. Von dem einstigen Zentrum der jüdischen Orthodoxie ist heute in der Stadt nichts mehr zu spüren. Es sei denn, man begibt sich bewusst auf die Spurensuche.