Ein Polemiker aus Leidenschaft

Von Michael Schornstheimer · 31.08.2005
" Es gibt so viele Lober der Zeit, laudatores, wie man auf lateinisch sagt. Dass eigentlich die Menschen dankbar sein sollten, wenn einmal einer ins Lob nicht einstimmt, und das bin ich. Was nicht heißt, dass das, was ich sage, "die Wahrheit" oder die "geglaubte Wahrheit" sein muss, denn man kann über alles verschiedener, richtiger Meinungen sein. Es gibt ja sehr wenige von meiner Art und ich bin sehr erstaunt, dass diese Wenigen so unfreundlich aufgenommen wird. Denn ich habe immer die polemischen Schriftsteller hoch geschätzt. Gleichgültig ob sie Swift heißen oder Juvenal. Sie sind eine notwendige Beimischung und eine Stütze für den Rest. "
Erwin Chargaff, der vor drei Jahren gestorben ist und dieses Jahr einhundert Jahre alt geworden wäre, polemisierte leidenschaftlich gern. Er war ein scharfer Kritiker der Atomspaltung ebenso wie der Molekularbiologie:

"In beiden Fällen geht es um die Misshandlung eines Kerns: Des Atomkerns, des Zellkerns. In beiden Fällen habe ich das Gefühl, dass die Wissenschaft eine Schranke überschritten hat, die sie hätte scheuen sollen", so hat er nicht nur einmal gewarnt.

Mit spitzer Feder attackierte Erwin Chargaff die Verseuchung der modernen Welt durch Gift- und Informationsmüll, den Niedergang von Kunst und Kultur, den Verfall ethischer und moralischer Werte. Sein Lehrmeister war Karl Kraus, höchstpersönlich.

"Ich war einer der treuesten Kumpanen, ich habe alles befolgt in meinem jugendlichen Enthusiasmus was er gesagt oder verboten hat. Also, ich habe mich ihm nie genähert, habe ihm nie einen Brief geschrieben, bin aber in alle Vorlesungen gegangen. Ich habe die Fackel als Gebetbuch sofort erstanden, jedesmal wenn sie neu war, war ich einer der ersten Käufer, beim Lanni, in der Kärtnerstraße. Aber ich habe sie sehr ernst genommen. "

Erwin Chargaff wurde neunzehnhundertfünf in Czernowitz geboren. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zog die Familie Chargaff nach Wien. Dort studierte er Chemie. Nach seiner Promotion bekam er in New Haven, an der Yale-University, ein Forschungsstipendium. Das war neunzehnhundert-achtundzwanzig. Nach dem ersten Jahr holte er seine Freundin Vera in Wien ab und heiratete sie in New York. Aber beiden "gefiel es dort schlecht".

"Dann bin ich nach Berlin gegangen, im Jahre 30, und habe den Thronantritt unseres Führers erlebt. Denn wir haben in der Neuen Wilhelmstraße gewohnt, gleich wo die Reichskanzlei ist oder war und haben also dem Triumphzug beigewohnt, auf der Straße, ohne zu applaudieren, dem Reichstagsbrand beigewohnt, direkt bei uns um die Ecke von unserer Dienstwohnung, und ich bin im April - mit einem österreichischen Pass behaftet war man damals noch vollkommen sicher - denn da hat Mussolini noch seine beschützende Hand über Dollfuss gehalten. Und nichts hat so großen Eindruck gemacht, so viel Respekt, wie der österreichische Pass, den ich immer bei mir getragen hatte und einmal wurde ich angesprochen, am Boykott-Tag, wie ich in die Bibliothek wollte, um etwas nachzuschauen, und da hat man mich gefragt, "sind Sie Jude, Herr Kollege?", damals hat man noch "Herr Kollege" gesagt, im Frühjahr 1933, später wurde anders gesprochen, "sind Sie Jude, Herr Kollege?", habe ich gesagt, ich bin Österreicher, ohne weiter darauf einzugehen, und ich konnte in die Bibliothek gehen und bin dann schon im April 1933 nach Paris gefahren mit meiner Frau, lange, ein halbes Jahr, bevor ich mich hätte als Flüchtling deklarieren müssen. "

Ende neunzehnhundertvierunddreißig verließen die Chargaffs Paris wieder und zogen ins ungeliebte New York. Erwin Chargaff trat als Biochemiker eine "kleine Stelle" an der Columbia-University an. Er beschäftigte sich mit der Erforschung der Nukleinsäuren und entdeckte mit seinem Team die so genannte "Basenpaarung" bei der Desoxyribonukleinsäure, die den Genetischen Code bestimmt.

Chargaff machte durchaus keine Bilderbuchkarriere: Mit dreiunddreißig wurde er Assistenzprofessor und erst mit 47 Jahren Ordentlicher Professor. An der Columbia-University blieb er bis zu seiner Emeritierung. Da war er siebzig.

In seinem autobiographischen Buch "Das Feuer des Heraklit" erzählt Chargaff, dass er immer wieder vorhatte, nach Europa zurückzukehren. Unmittelbar nach dem Krieg, aber auch später, nach der Pensionierung. Aber der Dollarverfall und die niedrige Pension machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Und noch etwas: seine ihm tief verwurzelte Sesshaftigkeit.

"Ich wechsle sehr ungern, Ich bin ein geborener Konservativer. Nicht im politischen Sinne. Ich finde, ich bin ein Stoiker, wenn Sie wollen. Und sage, man muss das nehmen, was man kriegt. Ich suche nicht den blauen Vogel, die blaue Blume. Und aus diesem Grunde nehme ich alles Mögliche in Kauf. Ich glaube schon, dass ich sowohl ein Stoiker bin als auch ein Skeptiker. Obwohl, ob man beides sein kann? Das waren ja damals sehr verschiedene Vereine, im Altertum, ich weiß nicht ob man von beiden gleichzeitig Mitgliedskarten haben konnte. "

Frage: "Ja, wenn Sie sagen, ich akzeptiere alles, was mir geschieht, eine Sache haben Sie ja nicht akzeptiert: Sie haben nicht akzeptiert, nach Ihrer Emeritierung, wie Sie schreiben, sich damit zu begnügen Mozart-Platten zu hören und in Ihren Büchern zu lesen, sondern ein "Zweites Leben" anzufangen. da haben Sie ja doch eine Sache nicht hingenommen, sondern sich um etwas anderes gekümmert? "

Antwort: "Ja, schon, ich bin ein Stoiker, aber kein Masochist. Nicht im sexuellen Sinn gemeint. Wenn mir ein Stein im Schuh wehtut, werf' ich ihn hinaus. Ein amerikanischer Zittergreis vorzeitig zu werden ist mir immer als eines der schrecklichsten Lose erschienen. Meine Kollegen tun das ja. Zum Teil hängen sie sich krampfhaft an ihr Labor, machen so kleine Kochereien, schreiben an so kleinen Arbeiten, die sie nie zu Ende schreiben oder die abgelehnt werden, denn die sind ja schon längst überholt, in diesem unerhörten Strom... Alles sehr uneinladend. "

"Wenn ich etwas in der Welt bewundere, dann ist es das Leben, das Geheimnis des Lebens, "Unbegreifliches Geheimnis" heißt ein Buch von mir, die Bezeichnung stammt von Hegel, mit einem Wort: ich halte das Geheimnis des Lebens für das größte Geheimnis, das uns umgibt, und gleich darauf kommt die Sprache. Die Zusammenhänge zwischen Sprache und Leben ist mir nicht ganz klar, aber müssen bestehen. Obwohl man mir sagen wird, Tiere sprechen nicht, halte ich das für unwahr. ich glaube sogar, dass Felsen sprechen. Aber unsre Ohren nehmen es nicht wahr. Ich glaube, dass die Erde, die Gaia, ein lebender Organismus ist, unsere Welt zusammenhängt. "

Frage: "Unwillkürlich erwartet man von einem, der das Leben bewundert eine Grundhaltung, die irgendwo auch optimistisch sein müsste, und bei Ihnen tritt nun das Gegenteil hervor, Herr Chargaff, dass Sie sich selbst nennen, einen "Dialektiker des Untergangs". "

Antwort: "Ja, ich nennen mich den schwarzen Pessimist. Aber irgendwo habe ich geschrieben, dass nur der schwärzeste Pessimist noch in der Lage ist zu hoffen. Es ist nämlich so, die Dialektik oder besser gesagt, die Polarität der Vorgänge des menschlichen Lebens überhaupt ist noch sehr dunkel. Ich sage ja häufig und gerne, dass dort, wo nichts ist, auch noch etwas ist. Ich halte es für unmöglich, dass es etwas gibt ohne ein Gegenteil. Ich glaube das Gegenteil setzt den Teil. Und aus diesem Grunde, ich glaube ich bin ein Pessimist, aber nur für die Zeit, die ich überblicken kann. Es schaut ja nicht gut aus. Denn ich weiß ja nicht, ob nicht, wenn eine kritische Grenze überschritten ist, ob man noch zurück kann. Das ist ja in der ganzen Weltgeschichte so. Das Ganze ist eine Waage, die Schalen gehen auf und ab, auf und ab, und dann kommt ein Hieb, und dann ist eine Schale für sehr lange unten. Für hunderte von Jahren.

Ich bin ein Pessimist, dass ich nicht sehe, in dem Sinne, aber wirklich nicht sehe, was besser geworden ist, als lächerliche Sachen. Für mich ist das Maschinenschreiben auf einem Computer leichter als auf einer Schreibmaschine. Sie können sagen, für mich ist der Wordprozessor, oder besser der Computer, eine Errungenschaft, die ich anerkenne, obwohl ich mich lustig darüber mache. "

Frage: "Ich finde, Sie machen sich nicht nur lustig, Sie attackieren ja sehr heftig die moderne Mediengesellschaft, die auf Computern aufbaut. "

Antwort: "Ja, wenn man sie so verwendet wie ich, hat sie meinen Segen. Ich verwende sie ja nur um meine Schriften zu tippen und zu korrigieren, ohne dass ich diese ekelhafte weiße Tünche verwenden muss und so weiter. Ich erkenn das elektrische Licht an, soweit es mir Licht gibt und mir das Lesen leichter macht. Ich weise nicht alles so zurück. Ich habe auch nichts gegen Kunststoffe, wenn sie besser sind. Was mir nur so schlecht gefällt ist, dass der Fortschritt der Technologie eine Senkung des Lebensstandards der Menschheit bedeutet. Sie können ja lesen, jeden Tag, das ist in Amerika jetzt eine Krankheit geworden, dieser Zusammenschluss von großen Kompanien zu einer, der Zusammenschluss von in den letzten drei Wochen hat meine Bank sich mit einer anderen vereinigt zur größten Amerikas oder der Welt und in demselben Artikel lesen Sie, man erwartet, the lay of "12 to 17 thousends of employers." Heute oder gestern sind 2 Kommunikationsriesen zusammengeschlossen, schon wieder 17 Tausend werden entlassen. Der Zusammenschluss, das ist eigentlich völlig dagegen, was Adam Smith oder andere Begründer des Kapitalismus verstanden hätten. Die Theorie oder die Legende geht ja, dass Fortschritte in der Industrie zur besseren Arbeitsstellenbeschaffung dienen. Mehr Leute werden gebraucht. Aber je mehr sie sich zusammenschließen, je potenter sie werden, desto weniger Leute brauchen sie. Da hat der Computer furchtbares geleistet. "

Frage: "Also wenn ich meinen Karl Marx richtig verstanden habe, hat genau das Marx prognostiziert, nämlich die zunehmende Zentralisierung und zunehmende Monopolisierung und damit die zunehmende... "

Antwort: "Ja, ja, ich habe den ersten Band des Kapitals einmal gelesen, die anderen Bände konnte ich nicht lesen. Ich bin nie ein Kommunist gewesen, das hätte ich sogar dem Senator MacCarthy beschwören können, ich habe nie einer Partei angehört, das liegt nicht in meinem Wesen, alle meine Freunde waren in der Kommunistischen Partei, besonders seit Hitler, ich nicht. Aber ich bin ein Verehrer des Marx als Denker, soweit ich sehe ein wunderbarer Schriftsteller, das Kommunistische Manifest ist einer der größten Beispiele der deutschen Prosa, meiner Meinung nach. Die Schrift gegen Napoleon des Dritten, die Heilige Familie ist wunderbar, die ökonomischen Schriften und die politischen Schriften, habe ich weniger verschlungen, sie sagen mir weniger. Aber es ist ja keine Frage, dass er in seinen - nicht Prophezeiungen - recht gehabt hat, irgendwo gibt es ja auch eine Stelle wo er sagt, Russland wird zuletzt kommen, oder so. Er erwartet das für England oder den Kontinent, da hat er sich schon geirrt. Er hat allerdings als Verehrer des Rousseau sich im Menschen geirrt, er hat den Menschen für potentiell gut gehalten, was ein furchtbarer Fehler ist. Meiner Meinung nach, der Mensch ist potentiell gar nix, weder gut noch schlecht, weder gut noch schlecht, oder, wie Pascal sagt, weder Engel, noch Bestie. So dazwischen, eine Mischung. Mit einem Wort, das hat er nicht gesehen. Er war ein ausgesprochener Rousseauianer, der gesagt hat, wenn man es den Menschen erklärt, desto eher werden sie es verstehen. Je mehr man aber den Menschen erklärt, desto weniger verstehen sie, denn sie haben andere Sorgen. "

Frage: "Andererseits ist ja gerade Karl Marx derjenige, der das Diktum aufgestellt hat, dass man die Welt nicht länger erklären soll, sondern dass man sie verändern soll. Und das ist etwas ... "

Antwort: "Da bin ich nicht seiner Meinung. Das nehme ich nicht an. Im Gegenteil, man soll die Welt nehmen wie sie ist. Ich bin nicht gegen Regenschirme, wenn Sie sagen, Regen ist ein Teil der Welt, sage ich ja, aber ich muss ja nicht nass werden, nicht? Da schnapp ich mir einen Schirm und öffne ihn. Da bin ich nicht dagegen. Meine Position ist erstens nicht konsequent, ich bin gar nicht stolz darauf, ein konsequenter Mensch zu sein, ich sage, manches und auch das Gegenteil. Und beides meine ich gleichzeitig und ehrlich. "

Frage: "Vielleicht können wir, Herr Chargaff, einmal ein paar Thesen Ihres Buches "Ein Zweites Leben" durchgehen und besprechen. Sie schreiben ja unter anderem, dass die Informationsgesellschaft in ihrer heutigen Ausprägung Wissen eigentlich abschafft, dass sie Umwelt verseucht, und die Menschen dazu bringt, nichts mehr wissen zu wollen. Könnte es nicht sein, dass das nur ein Übergangsphänomen ist, wo eben bei der Elektronisierung der Welt zur Zeit diese Massen auf einen einstürmen, und von vielen auch ungefiltert aufgenommen werden. Wäre es nicht auch denkbar, dass das ein Gewöhnungsprozess ist und die Menschen nach ein paar Jahrzehnten umso feiner und treffender auswählen, was sie wirklich wollen und sich so fein und bewusst bedienen an den elektronischen Medien, wie Sie es mit ihren Büchern gewohnt sind? "

Antwort: "Ja, das könnte man sagen, aber ich glaube ja nicht, denn ich erinnere mich, da scheinen Sie recht zu haben, wie der Buchdruck aufgekommen ist, haben sich ähnliche Stimmen erhoben gegen die allgemeine Verbreitung in technischer Form von Wissen und Schönheit und man hat darauf verwiesen, wie herrlich Manuskripte sind, solange man braucht man es um es zu machen, so sorgfältig wird es geschrieben, da will ich Ihnen recht geben, nur die geistigen Tätigkeiten der Menschheit haben Jahrhunderte, Jahrtausende gebraucht, um sich auszubilden. Wie lange hat es gedauert, bis man geschrieben hat. Wie lange, bis man gesprochen hat, und dann wie lange, bis man geschrieben hat. Dann hat man doch sehr primitiv geschrieben, dann ist es zu einer Blüte gekommen, in der spätgriechischen und römischen Zeit. Die Bibliothek von Alexandria muss ja ein Wunder gewesen sein. Dann ist es wieder runtergegangen.

Diese klappernde Wissensübermittlung, was man Informationsexplosion nennt, kommt mir als der größte Unsinn vor, weil ich glaube, das Gegenteil von Information ist nicht Ignoranz, sondern ist Wissen. ich glaube, Information ist das Gegenteil von Wissen. Man informiert sich über Sachen, die man nicht dringend braucht. Wenn ich wissen will, wann mein Flugzeug abfliegt, oder von wo, kann ich mich informieren. Das ist nicht genug für eine Explosion. Die glauben, wenn man so mit einem Fingerdruck erreichen kann das Wissen der Welt, sie können Avicenna aufschlagen und Aristoteles und dann schauen sie was Isaak Asimov zu sagen gehabt hat, ja das ist Information, das ist nicht etwas, was einen Menschen verbessert, aufbaut, ihm eine Stärke gibt. "

Frage: "Also, wenn ich Ihre Bücher richtig gelesen habe, dann ist es so, dass Sie eher zu der These neigen, dass die Welt in den letzten Jahrhunderten, Herr Chargaff, immer wieder ein Stückchen schlechter geworden ist. "

Antwort: "Fangen wir so an. Wann hat der Mensch aufgehört, sich als Teil der Natur zu betrachten? Ich würde glauben, wahrscheinlich in der Renaissance. Aber - da der Mensch sich verändert hat in einer irreversiblen Form - ist das, was ich nenne den Austritt aus der Natur. Das ist der Anfang der Technologie. Solange sich der Mensch noch als einzige Maschine betrachtet hat, war er noch in der Natur. Der Prototyp des Menschen war der Bauer, der Leibeigene. Politisch hat sich sicher viel gebessert. Moralisch und geistig nicht. "

Frage: "Albert O. Hirschman stellt in seinen Büchern immer weder die These auf, die Welt wird nicht schlechter und die Welt wird nicht besser. Man kann nur versuchen, aus seinen alten Fehlern zu lernen und maximal dann neue Fehler zu machen. "

Antwort: "Das ist sehr gescheit. Er hat sicher mehr recht als ich. Das ist sehr gescheit, ich wäre bereit, das zu diskutieren. Würede aber sagen, man muss bereit sein, seine Kriterien zu definieren. Die Qualität des Schaffens ist eine, die Qualität des Lebens ist eine andere. Es könnte sein, dass die beste Lyrik bei Funzellicht, bei einer Kerze geschrieben worden ist. Das hat Karl Kraus einmal gesagt und die gegenwärtige Lyrik genannt das "elektrische Gelichter". "Mit Kerzenstumpf am Lampendocht, und immer haben sie's vermocht und waren deutsche Dichter." So ähnlich fing es an. "

Frage: "Haben Sie sich einmal gefragt, Herr Chargaff, was gewesen wäre, wenn nicht Watson and Crick sondern Sie derjenige gewesen wären, der die Doppelhelix der DNS entschlüsselt hätte? "

Antwort: "Was wichtig ist, ist nicht die Helix, sondern das Wort doppelt. Helix ist ein Zufall. Helix ist sicher nur temporär und lokal. Absolut nicht bewiesen. Der Begriff des Moleküls, des Atoms ist zuschande geworden, an diesen Dinosauriern. Gut, "doppelt", haben wir gefunden. Ich habe die Basenpaarung gefunden. Das ist das doppelte. Ich habe nicht formuliert dass es eine doppelte Struktur ist. Aber die Basenpaarung habe ich gezeigt. Und nein, der Nobelpreis...., Schaun Sie, wenn ich etwas sage, dann sind es saure Trauben. Alle meine Nachrufe zum 90. Geburtstag schreiben, dass meine Wissenschaftskritik davon kommt, dass ich nicht den Nobelpreis bekommen habe. Was natürlich blöd ist, weil wenn ich ihn bekommen hätte, hätt ich doppelt kritisiert. Das leugne ich entschieden. Das ist eine blöde Anwendung der Psychoanalyse. "

Frage: "Aber dann wäre ihr Verantwortungsanteil an dem, was Sie so sehr kritisieren, vielleicht noch viel höher gewesen, denn"

Antwort: "Nein, ich hätte mehr Beachtung gefunden. Es wäre mir in dem Sinn lieb gewesen. Was ich gezeigt habe, ist, dass man chemisch nachweisen kann, dass es sehr viele verschiedene Nukleinsäuren gibt. Ich war der erste, der sich gekümmert hat. Habe, glaube ich, ganz schöne Erfolge gehabt. Und was mir vielleicht ein bisschen wehgetan hat, zur Zeit, als mir noch etwas wehtun konnte, ist, dass in der Fachwelt nicht eine Stimme sich erhoben hat, die das gesagt hat, was ich Ihnen jetzt gesagt habe. Einige haben es vielleicht geraunt oder mir brieflich mitgeteilt, aber nirgendwo werden Sie eine Zeile finden, dass eigentlich die große Entdeckung ist das Doppelte, die Paarung, und dass wir kleinen Leute die gemacht haben. "

Die Aufgabe der Wissenschaft wie ich jung war ist mir erschienen als die Beschreibung der Natur. Die Verbesserung der Natur oder die Veränderung der Natur hätte ich nie als meine Aufgabe betrachtet. Wär' ich der einzige gewesen, wäre also verboten gewesen, über DNA zu arbeiten, außer Chargaff und Co. hätte ich sicherlich weder die recombinant DNA gemacht, hätte sicherlich nicht coli gezüchtet, die nach Knoblauch riechen. Die machen ja die blödesten Sachen, die machen ja Angstträume.

Frage: "Aber Sie sagen ja mehreren Stellen Ihrer Bücher, dass der Beginn dieser Entwicklung, nämlich, dass die Naturwissenschaften von dem Beschreiben ablassen und zum Eingreifen kommen, dass diese Wurzeln eigentlich schon sehr früh liegen. Deshalb müsste sich jeder Naturwissenschaftler, auch wenn er nur beschreibt, schon damit auseinandersetzen, dass seine Beschreibung die Voraussetzung ist, dass eine spätere Generation, sich mit dem Beschreiben nicht mehr begnügt, sondern anfängt zu verändern. "

Antwort: "Ja, in dem Sinne bin ich an der Erbsünde beteiligt. Kann aber nur sagen, dass das Ganze mir erst aufgegangen ist nach Auschwitz. Schau'n Sie, ich bin kein leicht zu begeisternder Mensch. Ich bin von der Chemie ebenso wenig begeistert, wie von den meisten Dingen war. Aber ich habe mich ganz wohl gefühlt, ich dachte, das ist ein ehrenwerter Beruf, der etwas vielleicht nichts Nützliches, aber doch Anregendes beitragen könnte, das einen zum Denken anregt. "

Frage: "Vielleicht können wir noch dazu kommen, zu dem Punkt, was den Ausweg betrifft, die Rettung. Sie schreiben an einer Stelle: Wenn es eine Rettung gibt, so in die Rückkehr zur "kleinen Wissenschaft". Wie soll das gehen? "

Antwort: "Weniger Geld. Das ist ein primitiver Gedanke. Die Wissenschaft lebt ja jetzt von Geld, nicht von Begabung oder Interesse, sondern von Geld. Und für Geld. Ich habe vorgeschlagen, eine allgemeine Einschränkung der öffentlichen Mittel für Wissenschaft. Jedes Jahr 10% weniger als im Vorjahr, bis man so auf den Stand von sagen wir '38, '40 kommt, vor der großen Explosion. Aber, und das halte ich für wichtiger, Verbot für Patente von mit öffentlichen Mitteln gemachte Entdeckungen. "

Frage: "Sie schreiben im Heraklit, Herr Chargaff, "Diese Welt ist uns nur geliehen. Wir kommen und wir gehen; und nach einiger Zeit hinterlassen wir Erde und Luft und Wasser anderen, die nach uns kommen. Meine Generation hat als erste, unter der Führung der exakten Naturwissenschaften, einen vernichtenden Kolonialkrieg gegen die Natur unternommen. Die Zukunft wird uns deshalb verfluchen". Das könnte fast aus dem Parteiprogramm der Grünen Politiker, der Grünen Politik in Deutschland entstammen. Fühlen Sie sich den Grünen Parteien in Europa nahe? "

Antwort: "Ich fühle mich schon nahe. Sie fühlen sich mir nicht nahe. Aber ich glaube schon, dass alle Parteien sofort Parteien werden und das Parteiliche ist das Lavieren um Ministerstellen in Hessen oder irgendwo, das ist nicht das, was ich für das Wichtigste halte. Ich glaube, dass die Grünen zu wenig als Vorbild wirken, sie müssten so etwas Messianisches annehmen. Man sollte auf sie hören mehr wie Religionsstifter als wie auf Parteipolitiker. Das ist ja notwendig in einer Demokratie, ich sehe es ein, aber sie haben vielleicht zu wenig Wert gelegt auf das, was ich hier repräsentiere. "

Frage: "In einem Ihrer Bücher charakterisieren Sie sich selbst an radikalen Konservativen, beschreiben, dass Sie sich in Ihrer Jugend als "Roten Reaktion" gesehen haben, und in unserem Gespräch (...) haben Sie gesagt, ich bin doch eher anarchistisch. Ist das also ... "

Antwort: "Das eine schließt das andere nicht aus. Es kann viele Wahrheiten geben. ein Anarchist ist auch ein Reaktionär. Denn er reagiert abfällig auf das, was existiert. Dass er nicht impliziert, dass es früher besser gewesen ist, ist natürlich schade. Viele dieser großen Schriftsteller sind Anarchisten gewesen, ich meine, fast alle, die mir liegen. Ich verwende Anarchismus in einer sehr speziellen Art, in der Abneigung, sich an das bestehende Siegreiche anzuschließen. Und da sind viel mehr Leute Anarchisten als das McCarthy Komitee hätte bestätigen wollen. Es gibt einen schönen Hexameter aus Lukan, der mir gerade jetzt nicht einfällt, aber der aussagt, dass die Götter den Siegreichen lieben, Cato aber den Besiegten. "

Frage: "Ich habe mich schon mehrfach gefragt, welches Verhältnis Sie zu Ihrem Tod haben. Sie haben anklingen lassen, dass Sie irgendwie überdrüssig sind zu schreiben, und das zu tun, was Sie in den letzten Jahren getan haben, also sehnen Sie das eher herbei oder fürchten Sie das eher? "

Antwort: "Ich kann mich beziehen auf meinen gestern zitierten Aphorismus, wer über seinen Glauben reden kann, hat keinen. Ich kann nur sagen, dass ich sehr große Bewunderung habe für sehr alte Leute, die Selbstmord begehen, und mich oft frage, ob ich in der Lage sein werde. Ich betrachte das Leben als die größte Gabe, die uns geschenkt wurde und würde dafür sein, dass man es mit großer Hochachtung, Ehrfurcht, mit gewaschenen Händen oder sogar mit Glacehandschuhen anfasst. Ich glaube nicht, dass das etwas ist, was Gegenstand einer Diskussion sein kann, denn wenn man sehr krank ist, und der Arzt einem sagt, Sie sind unheilbar an Krebs erkrankt und werden in Schmerzen in den nächsten drei Monaten an Krebs zugrunde gehen, dann werde ich auch gern zum Schierlingsbecher greifen, nur ist der auch nicht so leicht zu haben, wie zur Zeit des Sokrates. "