Ein Phänomen

Im Hamburger Bahnhof in Berlin ist eine Ausstellung über das Werk des Foto-Künstlers Wolfgang Tillmans zu sehen. Die Schau zeigt über 200 Arbeiten aus dem Zeitraum von 1986 bis 2008.
Man kann nicht umhin festzustellen, dass die Karriere von Wolfgang Tillmans ein Phänomen ist. Sie begann mit den inzwischen legendären Ausstellungen im Hamburgern Schwulencafé Gnosa Ende der Achtzigerjahre und führte dann sehr schnell zu renommierten Galerien in Europa und den USA. Das waren die Zeiten, in denen Tillmans mehr oder weniger unspektakuläre Bilderwände aus lauter oft kleinformatigen und oft ziemlich schnappschussartig wirkenden Fotografien zusammensetzte, alle säuberlich mit Tesafilm auf die rohe Wand geklebt: Entweder Aufnahmen von Freunden, von Parties, von Zufallsmomenten auf der Straße, oder auch Kopien von Fotos aus Magazinen und Zeitungen. Es waren Bilder, die sich von der fotografischen Prächtigkeit verabschiedet hatten, in gewisser Weise konnte sie jeder gemacht haben, und dies zu signalisieren, diese Beiläufigkeit war auch durchaus das Ziel des gebürtigen Remscheiders.

20 Jahre später sieht es dagegen schon ganz anders aus. Berlin. Hamburger Bahnhof, Ausstellungskurator Joachim Jäger:

"Die Ausstellung, die wir hier zeigen, zeigt einen anderen Wolfgang Tillmans, einen Fotografen, der sich oft weit von der Abbildung entfernt hat hin zu einer sowohl konkreten als auch sehr abstrakten Fotografie. Und es sind sehr viele Arbeiten dabei, die kameralos entstanden sind, die im Fotolabor im chemischen Prozess entstanden sind, die Fotografie als Objekt vorstellen, als Lichterscheinung, als Recyclingprodukt."

Der Wolfgang Tillmans der letzten etwa sieben Jahre hat sein Bildprogramm verändert. Die neunziger Jahre sind eindeutig vorbei. Er ist nicht mehr der Fotograf der ideologiefernen neuen deutschen Jugend, die kurz nach der Wende den Rave tanzt und sich nach einer Politik von unten sehnt, einer Politik ohne Programm, einfach nach Zusammengehörigkeit, nach den wirklich existenziellen Dingen, die aber nicht tiefschürfend sein sollen, sondern locker, modisch, tanzbar. Tillmans ließ sich diese deutsche Wendejugend in seinen Bildern verkörpern, und für einen Moment schien es so, dass die Welt auf sie schaut – erst recht dann, als Tillmans im Jahr 2000 den Turner Prize in London gewann, als erster deutscher Künstler. Inzwischen verlegt sich Tillmans eher auf abstrakte Kompositionen: Aufsichten auf Städte und Landschaften aus der Luft, die er farblich verfremdet. Fotoblätter, die er in Schlaufen legt und die Lichtreflexe auf ihnen fotografiert, Fotopapiere, die er sich selbst belichten lässt und dann wie bunte Papierskulpturen an die Wand hängt. Das alles in durchaus prächtigen, man könnte sagen: gutbürgerlichen Großformaten. Alles wirkt schön, ästhetisch ausgefeilt, aber der Move von damals hat sich unwiederbringlich verflüchtigt ins Erhabene, Elegante. Was Tillmans für sich allerdings entschieden zurückweist:

"Ich hab selber das nie als einen Bruch empfunden. Es gab für mich eigentlich nicht einen Moment, an dem ich gesagt hab, so, jetzt bring ich Abstraktion ins Spiel. Es ist für mich eher überraschend, wie überrascht die Reaktionen sind. Wer Arbeiten wie die "Faltenwürfe", Stillleben von Kleidungsstücken, die ich seit 1991 mache, kennt, oder wer die "Concorde"-Arbeit kennt, was 56 Fotografien von Concordes vor blauen oder rosa Oberflächen ist – Ich hab ehrlich gesagt, diese 56 Bilder immer auch als 56 Farbfelder gesehen. Insofern: Es überrascht mich, wie überrascht die Reaktionen sind. Ich habe es immer als eine Einheit gesehen, das Gegenständliche und das sogenannte Abstrakte."

Die Berliner Ausstellung im Hamburger Bahnhof unterstreicht aber ungewollt den Gestus des Erhabenen, der eigentlich so gar nicht zum Werk von Tillmans passt. Man hat den Raum der Turner Prize Präsentation aus dem Jahr 2000 noch einmal entstehen lassen, dazu einige sehr frühe Kopie-Arbeiten aus den 80er Jahren. Im Großen und Ganzen aber dominiert der neue, der museale Tillmans, der nun von allem Zeitgeist abgelöst wird und der sich nur noch auf die Themen von allgemeiner künstlerischer Relevanz bezieht. Lichtreflexe, das Nachdenken über die Materalität der Fotografie, das Bild als Abbild des Abbildes und so weiter, lauter Themen, bei denen Tillmans weiß Gott nicht der Erste ist. Diese Berliner Schau ist eine Würdigung seines Lebenswerks, sie hat etwas Abschliessendes, obwohl Tillmans im August gerade einmal 40 Jahre alt wird.

Er selbst hat bereits vor drei Jahren begonnen, eine Art eigenes Bilanz-Werk zu schaffen, das Truth Study Center, eine Installation aus zahlreichen Tischen, bei der er noch einmal wie früher Magazinausschnitte, Zufallsaufnahmen und eigene Arbeiten nebeneinander ausbreitet, um die Fotografie als Medium der Wahrheit zu befragen, nach der Bilderflut des 11. September. Diese Arbeit bildet den Abschluss der Berliner Retrospektive, und sie ist, wie so viele, als bald nach ihrer ersten Präsentation, sofort zum Objekt der Begierde geworden, wie Kurator Joachim Jäger berichtet:

"Ich hatte diese Arbeit letztes Jahr gesehen in Hannover in der großen Schau und war so begeistert, dass wir relativ schnell auch beschlossen haben, die Arbeit mit auch zu einem Schlüsselpunkt dieser Ausstellung zu machen, und es ist natürlich ein unglaublicher Glücksfall, dass Herr Flick uns ausgerechnet diese Arbeit geschenkt hat."

Jäger versäumte es nämlich nicht, dem Sammler Friedrich Christian Flick ein paar Schnappschüsse von der Ausstellung in Hannover zukommen zu lassen, der die Installation daraufhin ohne weiteres Ansehen sofort kaufte und dann an den Hamburger Bahnhof weitergab. Auf Installation folgt Inszenierung. Die Zeiten unschuldig-spontanen Produzierens sind für Wolfgang Tillmans jedenfalls für immer passé.