Ein nimmermüder Aufklärer

Von Pascal Fischer |
Wer sich mit dem Fach Linguistik beschäftigt, kommt an den Theorien des amerikanischen Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky nicht vorbei. Die "Chomsky-Hierarchie" ist für Grammatiker zu einem stehenden Begriff geworden. Von seiner Methodik profitierten Informatiker. Seit Jahrzehnten aber tritt er viel stärker als politischer Beobachter auf - mit klar erkennbaren Sympathien für den Anarchosyndikalismus.
Über 40 politische Bücher hat er geschrieben, erfrischend wütend fielen seine Angriffe auf George W. Bush aus, für Noam Chomsky geradezu die Personifikation der selbstherrlichen, aggressiven US-Außenpolitik. Aber über Bushs Abgang und Obamas Wahlsieg kann sich Chomsky heute nur verhalten freuen.

"Dieses Land ist weit zivilisierter als vor 30 Jahren. Es gibt viel mehr Opposition gegen Verbrechen. Bush konnte im Irak nicht einfach machen, was Kennedy und Johnson in Vietnam taten. Aber ich teile die Euphorie der Europäer wegen Obama nicht. Das ist eine komplette Illusion. Obama kritisiert beispielsweise die Irakinvasion, weil sie scheiterte und zu kostspielig war. Das ist doch, als kritisierte ein Nazigeneral Hitler nach Stalingrad, weil er einen Zweifrontenkrieg geführt habe, anstatt erst England zu besiegen."

Radikale Vergleiche, wie Chomsky sie liebt, jenseits aller Tabus – auch zu finden im neuen Bändchen "Interventionen". Es versammelt neuere Leitartikel Chomskys zu den Themen Irak, Afghanistan, Israel und Iran. Große ausländische Zeitungen haben sie publiziert, in den USA waren es nur ein paar regionale Blättchen. Zu grundsätzlich legt Chomsky die Maßstäbe des Nürnberger Tribunals auch an die USA an, zu offen fragt er nach den Opfern all der kriegerischen oder geheimdienstlichen US-Interventionen in Kuba, Chile, Vietnam, Nicaragua, Irak oder Iran. Die vernachlässigt das selbsternannte "liberal" Establishment schon einmal und prügelt narzisstisch gekränkt auf Chomsky ein. "Normale Schmierkampagnen" nennt Chomsky das und zuckt mit den Achseln.

"In den USA schicken wir ja keine Dissidenten in Folterkammern. Ich werde nicht zensiert. Aber warum würde die Mainstream-Presse mich drucken wollen, wo ich liberale Intellektuelle kritisiere? Wenn man sich zu weit von der Mitte wegbewegt, wird man als Radikaler und Extremist angesehen. Wenn mich die Mainstream Presse nicht ausschließen würde, müsste ich glauben, dass ich einen Fehler mache!"

Ein wenig kultiviert er die Rolle des Außenseiters. Seine moralische Integrität hat Chomsky aber hinreichend bewiesen. In den 60er-Jahren organisierte er eine Steuerstreik gegen den Vietnamkrieg. Nach einer Antikriegsdemonstration landete er sogar kurzzeitig im Gefängnis. Bei seinen Intellektuellen-Kollegen vermisste er stets die entrüsteten Aufschreie, zum Beispiel, als die US-Bombenangriffe auf vietnamesische Zivilisten bekannt wurden. Die meisten Intellektuellen seien zu Technikern und Experten verkommen, welche die Regierung in politischen Fragen beraten, aber nicht hinterfragen. Mit Unwissen habe sich damals dennoch niemand herausreden können, auch nicht vor dem Beginn des eigentlichen Vietnamkriegs.
"In gewisser Weise hatten sogar die Zeitungen Beweise. Als Kennedy schon 1962 Südvietnam von der Airforce bombardieren ließ, wurde es so im Vorübergehen berichtet, auf der letzten Seite oder in einem Nebensatz in einem Artikel zu etwas ganz Anderem. Es gab also Beweise. Die intellektuelle Welt aber ist tief konformistisch. Es herrscht die Unterwerfung den Mächtigen gegenüber. Damals war die intellektuelle Debatte über den Vietnamkrieg auf zwei Positionen beschränkt: Die eine: Wenn wir den Krieg ausweiten, gewinnen wir. Und die andere: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Er entwickelte sich zu einem Desaster, das zu teuer wurde. So läuft die Diskussion über den Irak heute ebenfalls."

Trotz aller Ignoranz half Chomsky sein Ruf von Weltrang: Schon mit 27 Jahren wurde er an das MIT berufen. Zeitweilig war Chomsky der meistzitierte Wissenschaftler der Welt. Seine Theorie von der Generativen Grammatik revolutionierte die Linguistik und Psychologie von Grund auf: Chomsky beschrieb Grammatik mathematisch und ging von einer universellen, dem Menschen angeborenen Grammatik aus, die es zu beschreiben gelte.

Ähnlich grundsätzlich ist auch seine Kritik am Selbstverständnis der US-Amerikaner. Die USA beschrieben sich heuchlerisch als "heilsbringende Macht" und intervenierten in der gesamten Welt, um Rohstoffe zu sichern oder genehme Regierungen zu installieren. Wo servile US-Historiker ein Land sehen, das sich aus der britischen Kolonialherrschaft befreit hat, beschreibt Chomsky ein Land, das Indianer ausrottete, Angriffskriege zum Landgewinn führte und die Expansion als einzigen Weg zur nationalen Sicherheit begriff, kurz: selbst Kolonialmacht war und blutiges Imperium ist.

"Die USA sind vielleicht das einzige Land, das als erstarkendes Imperium gegründet wurde. Es hatte sofort eine imperiale Vision: Man wollte das nationale Territorium erweitern. Selbst der freiheitlich denkende Thomas Jefferson dachte, die 13 Gründungsstaaten seien das Nest, von dem aus die gesamte Hemisphäre bevölkert werde. So weit kam es nicht, aber zumindest wollen die USA die Hemisphäre dominieren."

In Lateinamerika liebt man Chomsky für diesen Außenblick auf die USA und für die linke Gesinnung. Chomsky ist stets für die Arbeiterselbstverwaltung eingetreten, ein Erbe seiner Familie, die zur Zeit der Great Depression sozialistisch und gewerkschaftlich engagiert war. Noch heute kann sich Chomsky ereifern über innenpolitische Skandale wie Watergate, seiner Meinung nach eine Petitesse im Vergleich dazu, wie der Staat Anarchisten und Kommunisten mundtot gemacht habe. Gerechte Löhne und Renten wünscht Chomsky sich, ein Ende des Kapitalismus mit Superreichen, aber weiß, dass das in den USA schwer durchsetzbar ist.
"Die Bevölkerung beeinflusst die Politik kaum und weiß das. In vielen großen Fragen, etwa bei der Gesundheitsversicherung, sind die Parteien konservativer als die Bevölkerung. Letztlich sind Demokraten und Republikaner Fraktionen unseres Einparteiensystems: Wir haben nur die Business-Partei. Punkt."

Paranoid und zynisch mutet es bisweilen an, dass Chomsky überall nur Machtinteressen sieht. Umso schätzenswerter ist daher sein Idealismus, es immer wieder mit der Kritik zu versuchen, motiviert einzig von der schlichten Empörung über Missstände. Mehr braucht dieser bekennende Ungläubige nicht. Das ist das größte und vielleicht lehrreichste Faszinosum an diesem nimmermüden Aufklärer.