"Ein Musikweltmeister aller Klassen"

Moderation: Jürgen König · 31.01.2008
Nicht nur in der Kunst des Dirigierens, sondern auch der Selbstvermarktung sei Herbert von Karajan "modern und visionär" gewesen, meint Ekhart Wycik, kommissarischer Generalmusikdirektor der Oper Dortmund. So habe er schon früh Bildaufnahmen von Konzerten anfertigen lassen, die es nun auf Video und DVD gibt. Er würde am 5. April seinen 100. Geburtstag feiern.
Jürgen König: Das Jahr 2008 ist auch das Karajan-Jahr. Am 5. April jährt sich der Geburtstag des Dirigenten zum 100. Mal. Die Plattenfirmen begleiten dieses Jubiläum mit einer wahren Flut von Veröffentlichungen. Die Deutsche Grammophon hat tief in die Archive gegriffen, veröffentlicht eine 10-CD-Box. Außerdem im Angebot eine DVD-Box, "Karajan – The Music, The Legend", alles sehr gediegen gemacht. Und all diesen Veröffentlichungen ist gemeinsam, dass Karajan als Phänomen sehr überhöht wird, als Hohepriester der Musik wird er verherrlicht. Woher kommt das? Warum taugt ausgerechnet Karajan dazu, derart verherrlicht zu werden? Und wie hat der Maestro selber beigetragen zu jener raunenden Ehrfurcht, mit der heute noch über ihn gesprochen wird. Über Karajan und sein Talent zur Selbstvermarktung wollen wir sprechen mit dem Dirigenten Ekhart Wycik, er ist kommissarischer Generalmusikdirektor des Opernhauses Dortmund. Guten Morgen, Herr Wycik!

Ekhart Wycik: Schönen guten Morgen, Herr König!

König: Wenn Sie heute Aufnahmen von Karajan hören, wie wirken die auf Sie?

Wycik: Im ersten Moment hört man sofort, das ist der Orchesterklang einer anderen Zeit. Karajan hat immer die unschönen Klänge, die akzentuierten Brüche vermieden. Sein Ideal des absoluten Schönklanges wirkt heute ein wenig plüschig, wie unter Zuckerguss, fast weich gespült. Aber es fällt auch sofort auf, dass das ein sehr stark persönlich geprägter Orchesterklang ist, ähnlich wie bei Leopold Stokowski, den man auch sofort heraushört. Ich muss aber sofort anschließen, dass der Karajan der 50er und 60er Jahre vor dem Zeithintergrund ausgesprochen moderne Züge trägt. Er war zwar nie eine Speerspitze der modernen Musik, wahrscheinlich hat die sich für ihn einfach zu schlecht verkauft, aber im Vergleich zu Furtwängler oder Bruno Walter, die damals in der Nachkriegszeit ein eher behäbiges Image hatten, wirkte Karajan in seiner Forschheit wie ein Bilderstürmer. Musikalisch wirken gerade die frühen Aufnahmen Karajans, zum Beispiel der erste Beethoven-Zyklus, in Tempi und Klang äußerst frisch, aufgeräumt, schlank und mit einem rhythmischen Schwung, der damals ganz elektrisierend gewirkt hat.

König: Sie sagen ein forsches Image. Ich meine, das hatten damals ja nun auch andere Dirigenten. Dimitri Mitropoulos zum Beispiel oder Igor Markevitsch. Warum sticht ausgerechnet Herbert von Karajan so sehr heraus?

Wycik: Ich glaube, das hängt einmal mit Karajans Meisterschaft zur Selbststilisierung und Selbstinszenierung zusammen. Heute wird man ihn als ausgesprochenes Alphatier bezeichnen, und da haben Sie dann auch in anderen Branchen Typen, die eben immer hervorstechen – einen Karl Lagerfeld, einen Robbie Williams. Das ist erst mal eine seltene Begabung, ob einem das immer gefällt oder nicht. Karajan hat sich von Beginn an klar als Markenartikel begriffen und dieses Image sorgfältig und zäh gepflegt. Und ein bisschen hat er auch Glück gehabt. Im Oktober '38 erschien eine Tristan-Kritik mit der Schlagzeile "Das Wunder Karajan", in der er als größte Dirigentensensation des Jahrhunderts gepriesen wurde. Das hat er dann später immer wieder geschickt ausgegraben. Er hat auch schnell begriffen, dass es den Marktwert steigert, sich mit einer Aura zu umgeben. Briefe wurden schon in dieser frühen Zeit immer von seinem Privatsekretär beantwortet. Heute wissen wir, dass dieser Privatsekretär er selbst war. Aber zum anderen hat Karajan auch, und zwar lange vor anderen, auf die Suggestivkraft von Bildern gesetzt. Im Erkennen der Sogwirkung von Bildern und Musik war er einzigartig. Diese inszenierten Plattenhüllen, das hatte was in der Wirtschaftswunderzeit mit ihren Sehnsüchten und auch mit dem Wir-sind-wieder-was-Selbstgefühl.

König: Also dieses Selbst-Versunkene, das Spirituelle, das daraus sprach, meinen Sie?

Wycik: Das meine ich ganz genau. Karajans markante Silhouette vor Goldschnitt oder im sanften Gegenlicht mit verklärendem Heiligenschein. Er hat sich halt sehr schnell zu einem exzellenten Marketingstrategen entwickelt, und das zu einer Zeit, als das noch ganz unbekannt war. Darin war er modern und visionär. Das Raumkonzept der Philharmonie in Berlin zum Beispiel war ganz auf seine Person zugeschnitten. Diese Zentralposition des Dirigenten als Hohepriester der Musik, darum herum sein treu folgsames Orchester und außen die bewundernden Massen. Karajan-Konzerte mussten ja auch immer etwas teurer sein als die der anderen Dirigenten. So wurde den Zuhörern die Gewichtigkeit der Interpretationen gewissermaßen eingeimpft.

König: Wenn Sie sagen, dass er sich als Markenartikel inszeniert hat, hat er dann auch vielleicht als einer der Ersten die Öffentlichkeit mit Geschichten gefüttert, um diesen Markenartikel auch richtig, wie sagt man heute, zu positionieren?

Wycik: Ganz bestimmt. Es gibt ja unzählige Karajan-Anekdoten, und man kann heute überhaupt nicht mehr unterscheiden, welche davon der Wirklichkeit entsprechen oder welche einfach nur gut erfunden sind. Aber vielleicht ist der wichtigste Aspekt, dass er nach Machtpositionen in der Klassikwelt gestrebt hat, sie bekam und dann aber meisterhaft verstanden hat, sie sofort miteinander zu vernetzen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht gab es in den wichtigen Musikzentren wie Salzburg, Berlin, Wien nichts, was gegen ihn entschieden werden konnte. Die Globalisierung dieser Vernetzung und die Ausweitung auf Dirigieren und dessen Vermarktung war es erst, die Karajan zu solch einer omnipräsenten Machtposition verhalf. Ich muss das noch mal betonen: Diesen klugen Instinkt zur Macht mag man ablehnen, aber er besitzt auch heute noch ein merkwürdiges Faszinosum.

König: Kann man sagen, dass Karajan vor allem deshalb so berühmt wurde, weil er eben ein so begnadeter Selbstdarsteller war?

Wycik: Nicht nur. Mit purer Selbstdarstellerei kommt man da nicht weit im internationalen Musikbetrieb. Eine Popularität, die jahrzehntelang dauert, wie in seinem Beispiel, verdankt sich nicht Scharlatanerie oder einer Mode. Seine Gegner haben ihm oft ja puren Bedeutungswahn unterstellt, aber Karajan war einfach von der Musik besessen und genauso sehr von der Vorstellung, dass diese seine Prägung der Musik menschheitsbeglückend sein sollte. Man muss eines festhalten: Karajan hatte ja die ganze Ochsentour vom Provinzkapellmeister bis zur Weltspitze hinter sich. Hier konnte ihm wirklich in handwerklicher Hinsicht niemand was vormachen.

König: Warum gibt es heute keine Karajan mehr, keine Nachfolgerin vielleicht auch, die oder der ähnlich viel Aufmerksamkeit erregt, eben auch durch eine solche Vernetzung, wie Sie sie beschrieben haben?

Wycik: Sie haben interessanterweise von einer Nachfolgerin gesprochen, ich möchte den Ball sofort aufgreifen. Karajan entspricht eigentlich dem Prototypus des Männlichen, des Kraftvollen, des young Dirigenten. Aber ich glaube auch, die Zeiten sind heute einfach nicht danach. So viel Eigenanteil wie bei Karajan wäre der Musikgemeinde heute wohl ziemlich suspekt. Wir haben ja auch keinen Mitropoulos oder keinen Stokowski mehr. Die Entdeckung der historischen Aufführungspraxis macht den Dirigenten heute zum Diener am Werk. Das ist eigentlich überall so. Das würde auch die Furtwängler-Renaissance in den letzten Jahren erklären, also von einem Dirigenten, der ja fast skrupulös die eigene Person immer nach hinten gestellt hat und den Dienst am Werk in den Vordergrund rückte.

König: Aber Karajan spielt doch immer noch eine große Rolle auf dem Musikmarkt, oder?

Wycik: Und wie, eine riesengroße! Überlegen Sie mal, für die Plattenfirmen ist das eigentlich ein paradiesischer Zustand. Die Aufnahmen liegen alle vor, man kann sie einfach aufwärmen, ohne einen einzigen Cent Produktionskosten. Der Markt in Karajans Hochzeit war dominiert von der Schallplatte, und das Schallplattengeschäft hatte er fest im Griff. Allein aus seiner EMI-Zeit gibt es über 1.000 Aufnahmen von ihm, über 1.000 Stunden Musik. Das ist sensationell. Heute ist der Markt zersplitterter, unübersehbar, wesentlich mehr Firmen, wesentlich mehr Dirigenten, und vor allem Internet, Fernsehen, Video, DVD haben die einzige Monokultur der Schallplatte abgelöst. Im Kernmarkt der klassischen Musik, nämlich dem, das richtig Geld bringt, gibt es fast nichts, was es mit Karajan nicht gibt. Allein die Beethoven-Sinfonien gibt es viermal komplett mit ihm, das ist einfach Weltrekord! Noch heute macht die Deutsche Grammophon ein Viertel ihres Umsatzes mit Karajan-Aufnahmen. Gegen diesen Marktwert sind viele heutige Stardirigenten Peanuts, ob mir das jetzt gefällt oder nicht.

König: Man liest ja immer wieder, Karajan habe die Entwicklung der CD vorangetrieben, also Karajan, der Technologiekatalysator sozusagen. Ist da was dran?

Wycik: Sein ganzes Leben lang hat sich Herbert von Karajan ja mit Technik beschäftigt und auch hier dieses Image gepflegt: am Steuer seines Sportwagens, auf seiner Luxusjacht, als begeisterter Pilot. Der Siegeszug der CD wäre wohl ohne den Einsatz von Karajan für dieses neue Medium so nicht denkbar gewesen. Es kam natürlich seinem Ideal eines schlackenlosen Schönklangs sehr entgegen. Ich weiß nicht, ob die Legende wahr ist, dass die Spieldauer der heutigen CD von Karajan bestimmt wurde. Angeblich wollte der Maestro Beethovens 9. Sinfonie auf einer einzigen Seite aufnehmen, ohne die Platte wechseln zu müssen. Aber wenn das erfunden ist, dann ist es ganz gut erfunden. Zwar hatte Karajan mit den Aufnahmen der ersten CDs weniger zu tun, aber wie kein Zweiter war er um die Verbreitung seiner Kunst in den Massenmedien bemüht und betrieb Wiederveröffentlichungen alter Schallplattenaufnahmen auf CD im großen Stil. Und ich finde, auch heute fasziniert noch eine andere markttechnische Vision. Schon lange vor der Erfindung der DVD ließ er seine Konzerte auch filmen, natürlich in dieser bewährten inszenierten Manier. Und das, lange bevor es überhaupt die Möglichkeit gab, diese Bildaufnahmen massenwirksam zu vermarkten, denn noch nicht mal der Videorekorder war damals massentauglich. Heute wird das jetzt alles wieder auf DVD herausgebracht. Noch mal, Alphatier. Diese fast hellseherische Kraft, damals schon die Bildaufnahmen zu machen, das war schon was Besonderes. Wenn ich seine Formel finden müsste für seine Rolle im Musikbetrieb, dann würde ich einmal an Adorno denken, der hat ihn ja bis zu einer präzisen Hassliebe begleitet und nannte ihn einmal Dirigenten des Wirtschaftswunders. Das passt eigentlich schon ganz gut mit dieser Technikverliebtheit und der flotten Selbstinszenierung und dann dem selten hinterfragten Führungsanspruch. Aber eigentlich trifft das alles nur einen Ausschnitt. Vielleicht könnte ich zusammenfassend sagen, Karajan war der erste Popstar der klassischen Musik, ein Musikweltmeister aller Klassen. Er hat mit einem klar geprägten Image von sich selbst der Musik seinen Stempel aufgedrückt. Er war ein Markenartikel.