Ein musikalisches Lebensgefühl

19.09.2008
Blues hat zwar seinen Ursprung an den Ufern des Mississippis, ist aber schon längst zu einer Weltmusik geworden. Der Band "Ich hab‘ Blues schon etwas länger" ist eine musikalische Spurensuche nach dieser Musikrichtung in Deutschland und zeigt, dass der Blues schon längst zwischen Nordsee und Alpen zuhause ist.
Seit Urzeiten hält sich das Gerücht, "Blues sei eine Sache der afro-amerikanischen Bevölkerung" – ein Klischee, so alt wie der Blues selbst und so falsch wie die Markenuhr aus Hongkong. Blues ist – und das wird bereits auf den ersten Seiten dieses längst überfälligen Diskurses klar – eine Sicht auf das Leben, die weder von Hautfarbe und Herkunft noch von der Ausbildung abhängig ist. Der große Bluessänger Big Bill Broonzy erzählte immer wieder gerne die Geschichte von den Schildkröten, die er als Junge am Mississippi gefangen hat, um die kärgliche Speisekarte aufzupeppen. Selbst ohne Kopf, so erzählte er, liefen die Schildkröten immer Richtung Wasser; sie wussten nicht, dass sie tot sind - und so gibt es viele, die nicht wissen, dass sie den Blues haben.

Die Autoren dieses Buches haben ihn schon etwas länger, und sie wissen es – ein großer Vorteil sowohl für den selbst den Blues habenden Leser als auch den Bluesneuling.

Jahrelang hat die klassische Musikwissenschaft versucht, den Blues in das tradierte zwölftaktige Schema zu pressen - ein Versuch, der dem gleicht, einem Farbenblinden das Himmelsblau zu erklären. Blues kann alles sein oder nichts, eine Geschichte zum Lachen und Weinen gleichzeitig, ein Flirt, eine derbe Anmache oder schlicht und einfach die immer wieder gleiche und doch so unterschiedliche Geschichte der Beziehung zwischen Mann und Frau.

Und er ist überall. Wer bisher dachte, Bill Ramseys "Zuckerpuppe aus der Bauchtanzgruppe" und John Lee Hookers "Boom Boom" wären so grundverschieden wie Puderzucker und Chili, wird hier eines Besseren belehrt. "Ich hab‘ den Blues schon etwas länger" ist mehr als nur eine vergnügliche Spurensuche, es ist eine längst fällige Beschäftigung mit dieser Musik in Deutschland Ost und West. Die Autoren – vom Herausgeberpaar Michael Rauhut (Professor für populäre Musik der Universität Adger in Norwegen) und Reinhard Lorenz (Gründer des Jazzarchivs Eisenach) handverlesen – ergehen sich nicht in den üblichen Plattitüden über den Blues. Sie haben sich, und das ist von der ersten bis zur letzten Zeile spürbar, ernsthaft, akribisch, aber auch emotional mit dieser Musikform auseinandergesetzt; so führen sie uns behutsam durch den deutschen Blues von seinen Anfängen im Kaiserreich über die Zeiten des Naziterrors bis ins Hier und Heute. Von Bayern bis Thüringen, von Berlin bis Lahnstein – von Inga Rumpf über Eric Burdon und Peter Maffay bis zu Pete York und Götz Alsmann.

Irgendwo zwischen den Zeilen lauert dann die Erkenntnis: Wir alle haben den Blues. Diese Musik, geboren an den Ufern des Mississippi, ist längst zu einer Weltmusik geworden, die mehr als nur kleine Fußstapfen in Deutschland hinterlassen hat – und sie lebt und gedeiht prächtig. Mögen die fröhlichen Volksmusikanten auch die Hitparaden stürmen, den Blues haben auch sie.

Rezensiert von Uwe Golz

Michael Rauhut, Reinhard Lorenz (Hg.): Ich hab‘ Blues schon etwas länger – Spuren einer Musik in Deutschland
Christoph Links Verlag 2008, Berlin
424 Seiten, 231 Abbildungen, 8 Farbtafeln, 29,90 Euro