Ein Museumsstück und seine Geschichte

Die Greifenklaue

10:04 Minuten
Illustration der Greifenklaue.
Illustration einer Greifenklaue - ein Trinkhorn, das Ausgangspunkt für auch wundersame Geschichten ist. © Martina Hoffmann
Von Stefanie Oswalt · 25.11.2020
Audio herunterladen
Es ist ein außergewöhnliches Ausstellungsstück im Berliner Kunstgewerbemuseum: ein über 500 Jahre altes Trinkhorn namens Greifenklaue. Die Geschichte reicht zurück in fürstliche Wunderkammern und eine mittelalterliche Abenteuererzählung.
Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Ausstellungsstück, das 1875 ins Berliner Kunstgewerbemuseum gelangte. Im Kunstgewerbemuseum Berlin befindet sich ein reich verziertes Trinkhorn, das uns schon aus der Ferne ins Auge springt. Und nicht nur uns, sondern auch einem Literaturwissenschaftler.
Eine auf den ersten Blick merkwürdige Kombination. Kein Text, sondern ein Trinkhorn erregt die Aufmerksamkeit eines Literaturwissenschaftlers. Denn mit diesem Trinkhorn taucht man in mittelalterliche Geschichte und auch Literaturgeschichte ein.
Lothar Lambacher ist Hauptkustos der Abteilung Mittelalter.
"Diese Art von Trinkhörnern wird als Greifenklaue bezeichnet."
Greifenklaue? Also die Klaue eines Greifen, jenes riesigen mythischen Wesens – halb Vogel, halb Löwe. Er hat den Kopf, die Flügel und vorn die Krallen eines Adlers und den Körper eines Löwen mit dessen kräftigen Hinterbeinen.
"Das natürliche Trinkgefäß des Horns besitzt eine metallene Fassung. In diesem Fall also eine Montage aus vergoldeten Kupferteilen. Damit das Horn einen eigenen Stand bekommt, hat man ihm zwei Manschetten umgelegt, und an diesen Manschetten sind hinten ein und vorne zwei klauenförmige Füße anmontiert."

Für den Menschen unbesiegbares Mischwesen

Der Kopf, die Flügel und die Krallen eines Adlers und der Körper eines Löwen: So ein mächtiges, für den Menschen unbesiegbares Mischwesen stellte im Mittelalter ein beliebtes Wappentier dar. Und es fand Eingang in die mittelalterliche Literatur – etwa in den kurz vor 1200 entstandenen und bis ins 18. Jahrhundert populären Erzähltext "Herzog Ernst".
"Er erzählt von den Abenteuern eines Herzogs, eines Reichsfürsten, Herzog Ernst, der beim Kaiser in Ungnade gefallen ist und aus dem Reich flüchten muss, vor Syrien in einen Seesturm gerät und dann an den Rändern der bekannten Welt Abenteuer erlebt."
Falk Quenstedt ist Literaturwissenschaftler im Fachgebiet der Älteren deutschen Literatur der Freien Universität Berlin. In dem Forschungsprojekt von Jutta Eming mit dem Titel "Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters" erforscht er im Sonderforschungsbereich "Episteme in Bewegung" das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur als Spielart menschlichen Wissens.
Falk Quenstedt, Mitarbeiter im Projekt "Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters" des SFB 980 "Episteme in Bewegung".
Falk Quenstedt, Mitarbeiter im Projekt "Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters" des SFB 980 "Episteme in Bewegung".© Erika Borbély Hansen
Das Wunderbare meint alles, worüber das Publikum einer Erzählung oder auch Figuren innerhalb dieser Erzählung sich verwundern, worüber sie staunen. In der Verwunderung steckt bereits Wissen, denn Verwunderung und Staunen ist immer an besonderes und je spezifisches Vorwissen gebunden, was in dem Moment nicht ausreicht, um das, was hier als das Wunderbare, als Phänomen, auftaucht, irgendwie zu erklären. Und damit ist ein Erkenntnisprozess angestoßen.

Wunderliche Objekte in der Literatur

Am Beispiel der Greifenklaue untersucht Falk Quenstedt, welche Rolle wunderliche Objekte in literarischen Texten spielen und sich durch diese gleichsam authentifizieren. Deshalb sichtet er auch Museumsexponate.
"Literatur existiert ja nicht in einem eigenen abgeschlossenen Raum vom Rest der Gesellschaft. Vor der Vitrine stehe ich, weil in fürstlichen und kirchlichen Sammlungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit – und vor allem dann in sogenannten Wunderkammern – Objekte des Wunderbaren besonders wichtig waren. Und auch die Erzähltexte handeln ja von solchen Dingen."
Die Greifenklaue im Kunstgewerbemuseum
Die Greifenklaue gelangte 1875 ins Berliner Kunstgewerbemuseum.© Kristiane Hasselmann
Eine Episode der Erzählung über Herzog Ernst ist für Falk Quenstedts Forschungen besonders aussagekräftig: Der mit seinen Schiffen an einem Magnetberg gestrandete Herzog Ernst und seine Getreuen befreien sich mittels der Greife aus auswegloser Situation. Mitsamt ihrer Rüstung in Tierhäute eingenäht, legen sie sich als Köder für die Greife aus:
Zitat:
"Nach ihrer Gewohnheit
Kamen die Greifen dann wieder
Über das weite Meer zu den Schiffen geflogen
Als sie der Bündel gewahr wurden,
packte jeder den seinen schnell in seine Krallen.
Sie ergriffen sie ziemlich kräftig
und brachten sie zu ihren Jungen,
wo sie sie vor ihnen allen
in das Nest fallen ließen."
Eigentlich als Futter für die Brut abgeworfen gelingt es den Helden, sich in Sicherheit zu bringen. Über sieben Jahrhunderte lang entstanden verschiedene Fassungen der Erzählung im deutschsprachigen Raum.

Detaillierte Darstellungen der Klauen

Sie hat Bezüge zur Sage von Heinrich dem Löwen, und auch zu Erzähltraditionen des mediterranen Raums gibt es Verbindungen – so tauchen ähnliche Motive etwa in den im persisch-arabischen Raum entstandenen Märchen aus Tausend und einer Nacht auf.
Falk Quenstedt ist aufgefallen, dass seit dem 15. Jahrhundert die Klauen der Greifen in den Texten besonders detailliert dargestellt werden.
Das ist ja genau die Zeit, in der die Wunderkammern entstehen und die ersten Greifenklauen-Trinkhörner für diese Sammlungen angefertigt werden.
In der 1471-1474 als strophischem Gedicht verfassten Sage von Heinrich dem Löwen etwa erweitert der Autor Michel Wyssenherre die Geschichte des Greifenflugs und lässt die Klauen der Greife zu regelrechten Akteuren der Geschichte werden: Der Held dieser Erzählfassung tötet die Greifenjungen, schlägt ihnen die Klauen ab, benutzt sie als Steigbügel zur Flucht aus dem Nest und nimmt sie schließlich mit nach Braunschweig.
"In diesem Hinweis kann ein ziemlich gewitztes Verfahren ausgemacht werden, das die Erzählung als wahr ausweist. Indem nämlich die Erzählung erklärt, wie ein bestimmtes Objekt – was Verwunderliches, was Seltsames, ein erstaunliches Objekt – überhaupt an diesen Ort gekommen ist", sagt Falk Quenstedt.

Greifenklaue im Braunschweiger Dom

Tatsächlich hing im Braunschweiger Dom einst eine Greifenklaue, die der Sage um Heinrich dem Löwen Wahrheitsgehalt verleihen sollte und deren eigene Authentizität als Objekt wiederum durch die Erzählung bezeugt wurde. Vor der Entstehung der Wunderkammern hingen solche Gegenstände durchaus in Kirchen.
"Wir müssen uns davon verabschieden, von der Vorstellung, dass Kirchen so hehre, sakrale Räume sind, wie wir das seit der Moderne gewohnt sind. Da gibt es die Betriebsamkeit des geschäftigen Alltags, wo Lärm herrscht und gehandelt wird und man seinen alltäglichen Geschäften nachgeht."
Stefan Laube ist Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität, er erforscht die Entstehung der fürstlichen Wunderkammern im 16. Jahrhundert. Die Kirchen werden immer mehr sakrale Räume, wie wir sie heute kennen, und die Fürsten errichten ihre Ausstellungsräume – Wunderkammern.
"Man kann ja die Geschichte der Kunst- und Wunderkammern ganz unterschiedlich erzählen", so Stefan Laube weiter, "und ich habe einen bestimmten Strang in meinen Forschungen sehr stark gemacht. Ich habe gesprochen von der Entstehung der Kunstkammer aus der Trennung des Reliquiars von der Reliquie..."

Die ganze Welt in einer Kammer

Zunehmend, so Laube, habe die faszinierende, materielle Qualität der Fassung an Bedeutung gegenüber den Reliquien gewonnen. Die Fürsten ließen prächtige Objekte herstellen, die aus organischen Naturmaterialien, wie aus Muscheln, Straußeneiern oder auch aus Horn bestanden, und die dann mit kunstvoll gefertigten Metallfassungen versehen wurden,

Die Wunderkammern stellten den Versuch dar, den Makrokosmos der ganzen Welt im Mikrokosmos einer Kammer abzubilden. Stefan Laube ergänzt, "der Appell, der bei den Kunstkammern des Barocks im Vordergrund steht, ist wirklich: 'Schau auf mich und staune'."
Die Greifenklaue – ein ins Auge springendes Exponat im Berliner Kunstgewerbemuseum: Wer untersucht, welche Geschichten darin stecken, erfährt komplexe Zusammenhänge zwischen Erzähltraditionen, Kirchengeschichte und der Entstehung von Museumsräumen als Ausdrucksformen fürstlicher Herrschaft.

Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Sonderforschungsbereich 980 der Freien Universität Berlin "Episteme in Bewegung". Unter "Hinter den Dingen – 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören" finden Sie die ganze Geschichte zur Greifenklaue als Podcast.