Ein Moment des Innehaltens

Beschreiben die Romane von Andrej Kurkow die zum Teil chaotischen Verhältnisse in der Ukraine nach dem Ende der Sowjetunion, so gleichen die nachdenklichen Texte im Erzählungsband "Herbstfeuer" eher einem Innehalten. Es ist, als wäre jetzt erst erkennbar, wieviel Bewahrendes unter dem Trubel der neuen Zeiten eigentlich steckt.
Ironische Leichtfüßigkeit, schwarzer Humor und ein Sinn für den Pragmatismus der einfachen Leute, wenn sie durch schwierige Zeiten gehen müssen, das waren immer die Kennzeichen der Prosa von Andrej Kurkow. Sonst in kurzweiligen, durchaus hintersinnigen Romanen ausgebreitet, legt er hier Erzählungen vor. Das ist natürlich kein Zufall. Waren die Romane Kurkows davon getragen, dass sie die neuen postsowjetischen (und damit reichlich chaotisch-kriminellen) Verhältnisse in der Ukraine zu fassen versuchten, wirken diese kürzeren Texte wie ein Moment des Innehaltens.

"Und tatsächlich: Nichts änderte sich, und das Leben ging genau so weiter wie bisher." heißt es am Beginn der Titelerzählung. Die politischen Beben aus der Metropole Kiew kommen im unweit gelegenen Dorf Lipowka praktisch nicht an, das Leben läuft letzten Endes weiter wie immer. Nur die "Marktwirtschaft" kommt hinzu. Der ehemalige Kolchos-Bauer Fjodor kommt auf den Dreh, im benachbarten Teich Fische zu fangen, sie zu dörren und als Trockenfisch an den Bierbuden der nächsten Stadt zu verkaufen. Das Geschäft floriert durchaus, aber Fjodors Frau Olja erträgt den Fischgeruch nicht. Als ihr Mann eines Tages aus der Stadt nicht zurückkehrt, ist sie – nach 30 stumpfen Ehejahren und einem Leben in öder Gleichförmigkeit – nicht sehr bekümmert und verbrennt all den zum Trocknen aufgespannten Fisch. Und als ihr völlig abgerissener Mann eines Abends über den Zaun klettert, ersticht sie ihn mit einer Heugabel, weil sie ihn im Dunkeln zunächst nicht erkennt. Sie verbrennt die Leiche mit all dem Herbstlaub, vergräbt die übrigbleibenden Knochen, "und das Leben ging genau so weiter wie bisher".

Das oberflächlich Neue erweist sich lediglich als ein Ornament am Lebensgebilde, das von anderen und längerwährenden Kontinuitäten womöglich doch viel mehr bestimmt wird. Wenn ein Privatdetektiv in einen Fall von Samenraub (per benutztem Kondom) verstrickt wird und sich ihm der Fall ganz eröffnet, als er einen Anruf mit der Androhung einer Vaterschaftsklage erhält, dann schwingt der Hintergrund einer international operierenden Mafia natürlich unbedingt mit. Aber der Fokus der Erzählung liegt auf dem Hergang der Dinge selbst, auf einer kriminellen Schuftigkeit, die sich zu jeder Zeit und an jedem Ort entfalten könnte. Ebenso im Fall eines Schriftstellers, der aus Deutschland mit einer frisch implantierten Leber zurückkehrt und am Flughafen von der Polizei erfährt, dass er offenbar das Organ eines ermordeten ukrainischen Politikers erhalten hat und über mafiöse Strukturen des internationalen Organhandels an seine "Spender"-Leber kam. Das Eigentliche aber enthüllt sich wie nebenbei: Dass man ihn – um der Sache auf die Spur zu kommen – offenbar in bester KGB-Manier lückenlos beschattet hat und ein minutiöses Protokoll seines Lebens in den Akten lagert.

In zwei Erzählungen klingt ein religiös motivierter Urgrund an, auf den der neue wilde Kapitalismus trifft. Bei einem sehr traditionellen dörflichen Weihnachtsfest stellt der Ich-Erzähler fest, dass einer der Beteiligten dabei ist, eine Art makabren Extremtourismus zu organisieren, bei dem Reisenden vorgegaukelt wird, sie würden sich in der vom Tschernobyl-GAU verseuchten "Zone" befinden. In einem anderen Text tauchen sogar rettende Engel auf, als es darum geht, eine Hochschwangere zu entbinden, die in einem Luftschiff hoch über Kiew eine Silvesterparty feiert.

Kurkows erzählerische Konfrontationen ergeben verhaltene, eher nachdenkliche Texte. Es ist, als würde etwas zur Ruhe kommen. Als würde man jetzt erst, da man sich an das laute, bunte und Nerven reizende Gewimmel der neuen Zustände gewöhnt hat, erkennen können, wieviel Bewahrendes, wieviel Unveränderliches unter dem Trubel der neuen Zeiten eigentlich steckt.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Andrej Kurkow: Herbstfeuer. Erzählungen.
Aus dem Russischen von Angelika Schneider.
Diogenes Verlag, Zürich 2007. 233 Seiten, 18,90 Euro