Ein moderner Klassiker
Die Erzählung "Montauk" zählt zu den Höhepunkten des Prosawerkes von Max Frisch. In einer Collage aus Erinnerungen, Tagebuchauszügen und Selbstreflexionen seziert Frisch in dem 1975 veröffentlichten Buch sein Lebens- und Liebesbild. Erstmals liegt der Text nun als Hörspielfassung vor.
"Montauk" ist ein Spätwerk von Max Frisch, getragen von einer bohrenden Nachdenklichkeit, voller Reflexionen über das Altern, das Schreiben, den Erfolg und das Geld, den Überdruss am politischen Engagement - und die Liebe zu immer jüngeren Frauen. Lynn heißt die Neue, eine Verlagsangestellte, die den Schweizer Autor auf der amerikanischen Lesereise betreut hat. Anfangs muss er sich ein bisschen überwinden, seiner Neigung zu folgen.
"Sowie eine Frau mir gefällt, komme ich mir jetzt als Zumutung vor", grübelt er. Aber der dickliche Mann mit der Pfeife hat Charisma und Charme; er weiß, wie man erobert:
"Manchmal meine ich sie zu verstehen, die Frauen. Und im Anfang gefällt ihnen meine Erfindung, mein Entwurf zu ihrem Wesen. Zumindest verwundert es sie, wenn ich in ihnen sehe, was meine Vorgänger nicht gesehen haben. Damit gewinne ich sie überhaupt. Ich sehe sie nicht simpel, sondern voller Widersprüche. Mein Entwurf hat etwas Zwingendes. Wie jedes Orakel."
Das Wochenende in Montauk und die freundliche Affäre mit Lynn wirken wie ein Gegenmodell zu den vielen von Schuldverstrickung und Eifersucht geprägten Frisch-Beziehungen, im Leben wie im Werk. Lynn - das ist eine Romanze ohne Zwang, eine Liebelei ohne Krisen und Konflikte. Der alternde Autor ist sich gewiss: "Lynn wird kein Name für eine Schuld", heißt es. Stattdessen: Gefühl letzter Liebe, Gefühl von Abschied und Endlichkeit. Dicht sind die Todes- und Vergänglichkeitsmotive gewebt, woraus der beschriebene Moment seine Prägnanz bezieht:
Gestern auf der Fahrt hierher, als man den endlosen Friedhof bei Queens sieht, ihre Frage:
"'Do you want to be buried or cremated?'
Die Küste ist anders als in der Bretagne vor einem Jahr, die Brandung wie überall. Jetzt ein paar weiße Wolken. Sie spiegeln sich in den blauen Lachen der Brandung. Dann versickert wieder die Nässe, der Sand wird grau, bis eine nächste Schaumzunge kommt, und wieder Glanz für eine Weile ...
'Ein langer leichter Nachmittag.'"
"Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser", heißt es im vorangestellten Montaigne-Motto. "Denn ich bin es, den ich darstelle." Hier spricht Frisch - wer kann das sprechen? Der Schauspieler Ueli Jäggi trifft den richtigen Ton: kraftvoll und müde, konzentriert und beiläufig zugleich. In den Ichpassagen trägt er den Schweizerdialekt dick auf, in den Er-Passagen nimmt er ihn zurück.
In die aktuelle Liebesgeschichte fügt Frisch viel assoziatives Erinnerungsmaterial ein. Im Hörspiel wird vor allem das Beziehungsdrama mit Ingeborg Bachmann vergegenwärtigt.
Die Dichterin ist selbst zu hören im O-Ton.
Ingeborg Bachmann: "Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar."
"Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Marianne kann diesen Satz nicht leiden. Ein Zitat. Sie findet es Kitsch. Was heißt schon Wahrheit?"
Eine Frau gegen di andere, beiläufiges Kratzen an der Größe: Das ist raffiniert, das ist Frisch. Marianne ist die aktuelle Nochehefrau in Berlin-Friedenau, die mit Lynn betrogen wird, nachdem sie selbst anderthalb Jahrzehnte zuvor an die Stelle Ingeborg Bachmanns trat. "Ich leugne nicht meine Schuld", gesteht er ein. Und ergänzt sogleich mit lakonischer Weisheit:
"Sie wird gebraucht, unsere Schuld. Sie rechtfertigt viel im Leben anderer."
"Montauk" ist komplex komponiert aus vielen Erzählsegmenten - diese Kleinteiligkeit kommt dem Hörspiel entgegen, mit seiner Ästhetik der kurzen Szene, seinen akustischen Momentaufnahmen. Schon der Roman hat eine offene Form, indem er die eigene Entstehung reflektiert und den Schreibprozess problematisiert. Leonard Koppelmanns Bearbeitung verstärkt das noch, indem sie Briefpassagen von Marianne Frisch und dem Erstleser Uwe Johnson einmontiert.
So klingt das Hörspiel bisweilen mehr nach Feature als nach Fiktion. Andererseits ergeben sich dadurch zusätzliche Perspektiven, etwa auf die aktuelle Problematik der unerwünschten literarischen Verarbeitung lebender Personen und die Grenzen der Kunstfreiheit.
Marianne Frisch:
"Ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches Material. Ich verbiete es, dass du über mich schreibst."
Heute wäre "Montauk", diese schöne und schonungslose Prosa, womöglich ein Fall für eine juristische Intervention. Stattdessen haben wir es mit einem modernen Klassiker zu tun. Und mit einem ambitionierten, eindringlichen, gelungenen Hörspiel.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Max Frisch: Montauk. Hörspiel
Mit Ueli Jäggi
Bearbeitung und Regie: Leonard Koppelmann
Osterwold Audio 2012, 2 CDs,
170 Min, 22,90 Euro
"Sowie eine Frau mir gefällt, komme ich mir jetzt als Zumutung vor", grübelt er. Aber der dickliche Mann mit der Pfeife hat Charisma und Charme; er weiß, wie man erobert:
"Manchmal meine ich sie zu verstehen, die Frauen. Und im Anfang gefällt ihnen meine Erfindung, mein Entwurf zu ihrem Wesen. Zumindest verwundert es sie, wenn ich in ihnen sehe, was meine Vorgänger nicht gesehen haben. Damit gewinne ich sie überhaupt. Ich sehe sie nicht simpel, sondern voller Widersprüche. Mein Entwurf hat etwas Zwingendes. Wie jedes Orakel."
Das Wochenende in Montauk und die freundliche Affäre mit Lynn wirken wie ein Gegenmodell zu den vielen von Schuldverstrickung und Eifersucht geprägten Frisch-Beziehungen, im Leben wie im Werk. Lynn - das ist eine Romanze ohne Zwang, eine Liebelei ohne Krisen und Konflikte. Der alternde Autor ist sich gewiss: "Lynn wird kein Name für eine Schuld", heißt es. Stattdessen: Gefühl letzter Liebe, Gefühl von Abschied und Endlichkeit. Dicht sind die Todes- und Vergänglichkeitsmotive gewebt, woraus der beschriebene Moment seine Prägnanz bezieht:
Gestern auf der Fahrt hierher, als man den endlosen Friedhof bei Queens sieht, ihre Frage:
"'Do you want to be buried or cremated?'
Die Küste ist anders als in der Bretagne vor einem Jahr, die Brandung wie überall. Jetzt ein paar weiße Wolken. Sie spiegeln sich in den blauen Lachen der Brandung. Dann versickert wieder die Nässe, der Sand wird grau, bis eine nächste Schaumzunge kommt, und wieder Glanz für eine Weile ...
'Ein langer leichter Nachmittag.'"
"Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser", heißt es im vorangestellten Montaigne-Motto. "Denn ich bin es, den ich darstelle." Hier spricht Frisch - wer kann das sprechen? Der Schauspieler Ueli Jäggi trifft den richtigen Ton: kraftvoll und müde, konzentriert und beiläufig zugleich. In den Ichpassagen trägt er den Schweizerdialekt dick auf, in den Er-Passagen nimmt er ihn zurück.
In die aktuelle Liebesgeschichte fügt Frisch viel assoziatives Erinnerungsmaterial ein. Im Hörspiel wird vor allem das Beziehungsdrama mit Ingeborg Bachmann vergegenwärtigt.
Die Dichterin ist selbst zu hören im O-Ton.
Ingeborg Bachmann: "Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar."
"Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Marianne kann diesen Satz nicht leiden. Ein Zitat. Sie findet es Kitsch. Was heißt schon Wahrheit?"
Eine Frau gegen di andere, beiläufiges Kratzen an der Größe: Das ist raffiniert, das ist Frisch. Marianne ist die aktuelle Nochehefrau in Berlin-Friedenau, die mit Lynn betrogen wird, nachdem sie selbst anderthalb Jahrzehnte zuvor an die Stelle Ingeborg Bachmanns trat. "Ich leugne nicht meine Schuld", gesteht er ein. Und ergänzt sogleich mit lakonischer Weisheit:
"Sie wird gebraucht, unsere Schuld. Sie rechtfertigt viel im Leben anderer."
"Montauk" ist komplex komponiert aus vielen Erzählsegmenten - diese Kleinteiligkeit kommt dem Hörspiel entgegen, mit seiner Ästhetik der kurzen Szene, seinen akustischen Momentaufnahmen. Schon der Roman hat eine offene Form, indem er die eigene Entstehung reflektiert und den Schreibprozess problematisiert. Leonard Koppelmanns Bearbeitung verstärkt das noch, indem sie Briefpassagen von Marianne Frisch und dem Erstleser Uwe Johnson einmontiert.
So klingt das Hörspiel bisweilen mehr nach Feature als nach Fiktion. Andererseits ergeben sich dadurch zusätzliche Perspektiven, etwa auf die aktuelle Problematik der unerwünschten literarischen Verarbeitung lebender Personen und die Grenzen der Kunstfreiheit.
Marianne Frisch:
"Ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches Material. Ich verbiete es, dass du über mich schreibst."
Heute wäre "Montauk", diese schöne und schonungslose Prosa, womöglich ein Fall für eine juristische Intervention. Stattdessen haben wir es mit einem modernen Klassiker zu tun. Und mit einem ambitionierten, eindringlichen, gelungenen Hörspiel.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Max Frisch: Montauk. Hörspiel
Mit Ueli Jäggi
Bearbeitung und Regie: Leonard Koppelmann
Osterwold Audio 2012, 2 CDs,
170 Min, 22,90 Euro