Ein Modell geistiger Hygiene

Zwischen 1977 und 1988 reiste Claude Lévi-Strauss fünf Mal nach Japan, er verfasste mehrere kleinere Schriften über seine Eindrücke. Der Band illustriert sein Verhältnis zu Japan und präsentiert eine hochinteressante Facette im Werk dieses berühmten Anthropologen.
Schon als Kind war Claude Lévi-Strauss von Japan fasziniert. Besonders beeindruckten ihn die japanischen Farbholzschnitte, die ihm sein Vater schenkte, wenn er gute Noten nach Hause brachte. In fortgeschrittenem Alter konnte er an diese Begeisterung anknüpfen: Zwischen 1977 und 1988 reiste er fünf Mal nach Japan und verfasste mehrere kleinere Schriften über seine Eindrücke. Diese Schriften führt der Band "Die andere Seite des Mondes" nun erstmalig zusammen.

Wahnsinnig viel ist Claude Lévi-Strauss zeit seines Lebens nicht gereist. Seine intensivsten Feldforschungen hat er bei den Ureinwohnern Brasiliens durchgeführt. Daraus ist später der Bestseller "Traurige Tropen" hervorgegangen. Er habe sich immer "eher als Schreibtischtyp denn als Feldarbeiter gefühlt", bekannte er freimütig. In Japan aber war er fünf Mal. Es waren Reisen, deren gesamte Dauer "kaum ein paar Monate" übersteigt, die aber sehr intensiv waren und ihn nicht nur in zahlreiche Groß- und Kleinstädte, sondern auch nach Okinawa und auf kleinere japanische Inseln führte.

Eher unbemerkt von der Öffentlichkeit hat er im Laufe der Jahre neun Texte verfasst, in denen er vor allem japanische Mythen und Künste unter die Lupe nimmt und die der Band "Die andere Seite des Mondes" nun bündelt: Vorträge, Artikel, Vorworte und ein transkribiertes Interview, das er 1993 dem staatlichen japanischen Fernsehsender NHK gab. Die Texte wurden zwischen 1979 und 2002 publiziert. Claude Lévi-Strauss war also bereits 70 Jahre alt, als der erste seiner Japan-Texte erschien.

Aus jedem seiner Texte spricht der "unwiderstehliche Zauber", den die japanische Kultur auf ihn ausgeübt hat. Sein Augenmerk gilt dabei der japanischen Mythologie und dem traditionellen Handwerk, und er bewundert "Japans Fähigkeit, sich auch in seinen modernsten Manifestationen mit seiner fernsten Vergangenheit verbunden zu fühlen". Besonders intensiv hat er das "Kojiki" aus dem 8. Jahrhundert studiert, das die Mythologie und Frühgeschichte Japans schildert. (Dieses wichtige Werk erscheint im Juli im "Verlag der Weltreligionen" übrigens erstmalig in deutscher Übersetzung.) Im "Kojiki" findet Lévi-Strauss etliche Mythen, deren strukturelle Merkmale er herausdestilliert und die er mit ähnlichen Erzählungen vergleicht, die in Ozeanien und im westlichen Amerika zirkulieren.

Zwischen den Mythen und der Jetztzeit aber ist Lévi-Strauss viel Geschichtliches abhanden gekommen. So ist es bestürzend, dass er, der als Jude während des Zweiten Weltkriegs selbst ins Exil gehen musste, den Krieg und die auf blankem Rassismus gegründeten japanischen Kriegsverbrechen an keiner Stelle thematisiert. Stattdessen sieht er – erschreckend ahistorisch – in den Japanern eine "Menschheit, die nicht so müde, von den Revolutionen, den Kriegen nicht so aufgerieben ist wie die der Alten Welt". Und er findet, dass "die japanische Kultur dem Orient das Modell sozialer Gesundheit, dem Abendland das Modell geistiger Hygiene" bietet.

Über die Mythenanalyse hinaus hat Claude Lévi-Strauss Handwerker besucht und sich ihre Fertigkeiten zeigen lassen, er hat sich mit der japanischen Grammatik beschäftigt und traditionelle Kunst- und Musikstile analysiert, ohne jedoch Japanologe zu sein. Deshalb werden ausgebildete Japanologen in seinen Überlegungen wenig Neues finden, und auch philosophisch Interessierte finden hier keine grundlegend neuen theoretischen Ansätze. Der Band illustriert Lévi-Strauss’ Verhältnis zu Japan; und präsentiert damit eine weitere – nicht unproblematische, aber doch hochinteressante – Facette im Werk dieses bedeutenden Anthropologen.

Besprochen von Katharina Borchardt

Claude Lévi-Strauss: Die andere Seite des Mondes. Schriften über Japan
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
175 Seiten, 24,95 Euro