Ein Mann sieht Roth

Joseph Roth war vieles in seinem Leben: Antifaschist, Monarchist, Starjournalist. Die Widersprüche eines Lebens beschreibt Wilhelm von Sternburg in seiner neuen Biographie über den 1894 im galizischen Brody geborenen österreichischen Schriftsteller – ohne jedoch die Distanz zu verlieren.
Auf einem kleinen Vorortfriedhof von Paris spielt sich Ende Mai 1939 eine Szene ab, wie sie der Romanautor Joseph Roth nicht besser hätte erfinden können: Drei Tage nach seinem Tod in einem Armeleute-Hospital streiten sich an seinem Grab Freunde, Kollegen und Bekannte. Katholische Christen treffen dabei auf jüdische Emigranten, deutsche Sozialdemokraten auf Kommunisten und österreichische Monarchisten. Jede Fraktion beansprucht Joseph Roth, einen der Starjournalisten der Weimarer Republik, für sich – mit einigem Anspruch. Man ahnt, dass das Leben des Verstorbenen sich nicht leicht auf einen Punkt bringen lässt.

Wilhelm von Sternburg, erfahrener Biograph, selbst langjähriger Journalist und ehemaliger Chefredakteur des Hessischen Rundfunks, gelingt es, in seinem neuen Buch „Joseph Roth. Eine Biographie“ die zahlreichen Facetten von Joseph Roths Wesen und Werk anschaulich und gut verständlich miteinander zu verbinden. Er erzählt im Präsens, lässt den Leser unmittelbar, zumeist chronologisch, an Roths Entwicklung teilhaben – ohne jedoch darauf zu verzichten, dessen Leben und Werk auch aus der Distanz zu kommentieren.

Sternburg nutzt dazu bereits vorliegende Biographien Joseph Roths und Erinnerungen seiner Zeitgenossen. Er erweitet aber deren Focus: schildert gut nachvollziehbar jüdische Geschichte in Galizien und die Situation in Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Geht dezidiert auf die politische Situation der Weimarer Zeit und der Jahre von 1933 bis 1939 ein, psychologisiert zur Vater-Sohn Problematik und unternimmt kleine Exkurse, beispielsweise zum Thema „Schriftsteller und Alkohol“. Roth wird als vielschichtige Person erfasst: als selbstbewusster Karrierist und melancholischer Außenseiter, Jude auf der Suche nach Heimat, politischer Grenzgänger, Repräsentant einer Zeit im Umbruch.

Ausdrücklich würdigt Sternburg neben Roths erzählerischem Oeuvre dessen journalistische Arbeiten. Zwischen 1919 und 1939 verfasst der 1894 im galizischen Brody geborene Roth 1500 Artikel. Zu Beginn der 20er Jahre reüssiert er. Schreibt für den sozialdemokratischen „Vorwärts“, verschiedene Satire-Zeitschriften, für die angesehenen liberalen Blättern „Berliner Börsen Courier“ und „Frankfurter Zeitung“. Schnell wird er einer der bestbezahlten Feuilletonisten der Weimarer Republik – ehrgeizig, streitbar, klug, sozial engagiert, politisch hellsichtig, stilistisch brillant.

„Die genaue, reflektierende Beobachtung, das Wissen um unsere kleinen Schwächen und Träume ist es, was den Feuilletonisten Roth noch heute so lesenswert macht“, resümiert Wilhelm von Sternburg. Seine – mit zahlreichen Fotos ausgestattete – Biographie Joseph Roths betont den Zusammenhang von Werk und Leben des Autors. Sie lässt uns eine Zeit besser verstehen, die der unseren nicht unähnlich ist. Und macht große Lust, auch Roths Romane wieder zu lesen.

Besprochen von Carsten Hueck

Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2009
559 Seiten, 22,95 Euro