Ein Märchen aus der Gegenwart

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 20.01.2006
In den Romanen des chilenischen Dichters Antonio Skármeta sind die Schatten der Vergangenheit ein fester Bestandteil. So auch in "Der Dieb und die Tänzerin", ein Märchen aus der Gegenwart. Der von Augusto Pinochet außer Landes getriebene Chilene rebelliert gegen eine Demokratie, in der das Vergessen den Zorn und die Empörung längst besiegt hat.
Antonio Skármeta, geboren 1940, gehört zu einem Häuflein Versprengter: ein chilenischer Dichter, von Pinochets Diktatur 1973 außer Landes getrieben. Ihn verschlug es nach West-Berlin. Erst 1989 kehrte er heim - nach diesem gleitenden, fast verschämten Übergang zu einer Demokratie südamerikanischer Fasson. Ab 2000 war er noch einmal in Berlin, für ein Intermezzo als Botschafter. Erst Opfer staatlicher Willkür, dann Repräsentant seines Staates: So paradox kann das Leben eines Schriftstellers sein.

Paradox klingt auch Skármetas jüngste Geschichte, ein Märchen aus dem Chile der Gegenwart. Es gibt darin Helden und Schurken, die Guten und die Bösen also, es gibt magische Zufälle, wunderbare Abenteuer, ja, sogar einen Prinzen mit Braut. Alles beginnt an einem Juni-Tag mit einer allgemeinen Amnestie, exakt am 13. Juni, dem Tag des heiligen Antonius von Padua. Antonius - Patron der Liebenden und Wiederbringer verlorener Gegenstände – schenkt zwei Männern die Freiheit, deren Wege sich bald kreuzen werden. Der erste ist ein hübscher und harmloser Bursche, ein Pferdedieb namens Ángel. Der zweite hat als Kunsträuber von sich reden gemacht, Nicolás, ein Gentleman-Verbrecher und Kavalier alter Schule.

Nicolás will nur eines: zurück zu seiner Frau. Während der Haftzeit ließ sie nichts von sich hören. Jetzt wäre sie bereit, dem Safeknacker wieder Tür und Herz zu öffnen, doch zuvor möchte sie Geld sehen, viel Geld. Ángel, der Junge, verliebt sich beim ersten Gang durch die fremd gewordene Stadt in das erstbeste Mädchen. Victoria ist blutjung, eine begabte Tänzerin, aber leider bitter arm.

Die beiden Ganoven tun sich zusammen und planen den Coup ihres Lebens. Aus einem Tresor in einem Hochhaus der Hauptstadt wollen sie bündelweise Bares stehlen, ein Vermögen, das dem ehemaligen Chef von Pinochets Geheimdienst gehört. Der General, so heißt es im Roman, sei heute der "größte Gangster des Landes"; ihn zu berauben, ist mithin fast ein patriotischer Akt.
In allen Skármeta-Romanen lag der Schatten der Vergangenheit – das Trauma "Gewaltherrschaft" - wie eine zweite Schicht unter dem Text. So auch hier: Der Chilene rebelliert gegen den Normalzustand einer "schutzlosen Demokratie", in der das Vergessen, die allgemeine Amnesie, den Zorn und die Empörung längst besiegt hat.

Bei Antonio Skármeta wird nichts vergessen, es gibt kein Verdrängen, und sogar ein beliebiger Carabinero von der Strasse, eine Nebenfigur, quält sich mit Selbstzweifeln. All die Folterungen, die Verschwundenen... "Was hast du damit zu tun?" empört sich seine Frau. "Vor 30 Jahren warst du doch noch gar nicht geboren." An den inneren Frieden im Land, täglich im Fernsehen beschworen, mögen sie beide nicht glauben. "Was fehlt denn noch, damit wir endlich versöhnt sein können?" fragt der Carabinero. "Gesten", erwidert die Frau, mit der Stimme des Erzählers. Gesten des Militärs, der Polizei, der Politik. Auch dieses Buch will eine Geste sein. Wunderwirkend. Wie im Märchen.

Antonio Skármeta: Der Dieb und die Tänzerin
Aus dem chilenischen Spanisch von Willi Zurbrüggen
Piper Verlag, München, 2005
400 Seiten
22,90 Euro