Ein literarisches Naturtalent

Im Falle des 29-jährigen Reif Larsen muss man anerkennen, dass es mit all dem Geld und Lob den Richtigen getroffen hat. "Die Karte meiner Träume" erfüllt die hohen Erwartungen, man verliebt sich in die abstruse Familie der Hauptfigur T. S. Spivet, die erst zwölf Jahre alt und eine Spezialbegabung ist.
Hier sei wieder einmal Amerika zu sich selbst gekommen, der amerikanische Realismus habe einen authentischen individuellen Ausdruck gefunden auf der Ebene der hohen Literatur. Vom Geist Pynchons und Mark Twains sei der junge Mann gesegnet, der für eine Million Dollar Vorschuss vom No-Name zum Shooting Star avancierte.

"Die Karte meiner Träume" erfüllt jedoch die hohen Erwartungen, man verliebt sich in die abstruse Familie der Hauptfigur T. S. Spivet, die erst zwölf Jahre alt und eine Spezialbegabung ist. Man folgt diesen Figuren, die in ihrer Schnoddrigkeit tatsächlich an Twain erinnern, gerne und mit einem beträchtlichen Suchteffekt.

T. S. kann Kartografisieren oder genauer: Er kann abstrakte Schaubilder komplizierter Sachverhalte herstellen. Einige dieser Schaubilder konnte er veröffentlichen, und eines Tages ruft das kartografische Smithsonian-Institute an und lädt ihn – nicht ahnend, dass es sich um einen Zwölfjährigen handelt - zum Gastvortrag und verleiht ihm eines Preis. Der kleine T. S. Spivet macht sich auf den Weg aus dem Westen Richtung Ostküste - und diese Reise ist der Roman.

Nur kann sich der republikanische Hurra-Patriotismus dieses Buch nicht einverleiben. Es ist eine Desillusionierungsgeschichte und Erkenntnisnovelle. Der junge Spivet ist Naturalist. Er glaubt, dass jeder komplexe Prozess auf eine übersichtliche Struktur reduzierbar sei. Mit der Zeit lernt er die Brüchigkeit der Abstraktion kennen und findet schließlich in einer verwandten, aber für ihn neuen Rolle zu sich selbst, in der des Künstlers.

Neidvoll muss man im Falle des heute 29-jährigen Reif Larsen anerkennen, dass es mit all dem Vorab-Geld und Vorab-Lob einmal den Richtigen getroffen hat, beziehungsweise das richtige Buch. Die Raffinesse, mit der Larsen seine Zeichnungen und Glossen in die Geschichte integriert, hat in der Tat pynchoneske Züge, seine Dialoge twainsche Schlichtheit und twainschen Witz – so kann man letztlich den Trompeter Stephen King nur zustimmen.

Vom Naturalismus zum Konstruktivismus könnte man den Lernprozess der Hauptfigur in diesem Bildungsroman überschreiben. T. S. Spivet lernt, dass "man die wahren Orte auf keiner Landkarte findet". Dieses Melville-Zitat stellt Larsen seinem 435 Seiten-Buch voran. Und damit hat man auch schon – ganz amerikanisch handfest – die Moral von der liberal-demokratischen Geschicht'. Das Buch ist aber auch für jene interessant, die an einem gleichsam demokratischen Patriotismus interessiert sind, an dem des "anderen Amerika", als dessen neue Ikone nun nach seinem Selbstmord der Schriftsteller David Forster Wallace fungiert.

Mit Reif Larsen hat es ein Naturtalent zur frühen Meisterschaft gebracht. Seine "Selected Works", geschmeidig übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, lesen sich als Liebeserklärung an die Vereinigten Staaten einer humanen Aufklärung.

Besprochen von Marius Meller

Reif Larsen: Die Karte meiner Träume. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
435 Seiten, 22,95 Euro