Ein Leben, das ohne Welt auskommt

12.12.2011
Ein Ehepaar, das nichts mehr von seiner Hochzeit weiß, aber noch immer in Zuneigung verbunden ist, täglich Unbekannte in seiner Wohnung hat und die Welt nicht mehr versteht: Péter Farkas schildert Demenz aus der Sicht der Betroffenen. Entstanden ist ein ruhiger und präziser Roman.
Altersdemenz, längst ein gravierendes gesellschaftliches Problem, wird nur langsam ein literarisches Thema. Einen Anfang machte 1989 Margaret Forster mit "Ich glaube, ich fahre in die Highlands" (dt. 1990), Martin Suter folgte mit "Small World" (1997) und 2011 Arno Geiger mit "Der alte König in seinem Exil". Sie thematisieren die Außensicht auf demente Menschen oder das Gleiten in die Demenz. Martin Baltscheits Bilderbuch "Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor" (2010) erzählt Kindern von der Alterskrankheit.

Péter Farkas bringt eine neue Perspektive ins Spiel. Eindringlich und konsequent schildert er in seinem Roman "Acht Minuten" das Zusammenleben eines dementen Paares aus der Sicht des Mannes. Der alte Mann und die alte Frau – ihre Namen sind ihnen nicht mehr geläufig – leben allein in ihrer Wohnung. Zärtlich und unendlich geduldig kümmert sich der Mann um seine Frau. Anders als sie kann er mit manchen Anforderungen des Alltags noch umgehen: Er weiß, wie man ein Brötchen schmiert, er kann sie und sich an- und auskleiden oder einmal am Tag auf den Balkon führen. Immer wieder erdulden beide die plötzliche Anwesenheit ihnen fremder Menschen in der Wohnung – darunter ihre Tochter –, die sich in ihr Leben einmischen. Unerträglich ist ihnen allerdings, dass eines Tages die Ehebetten auseinandergerissen und in verschiedenen Zimmern aufgestellt werden. Da schlafen die beiden, die nicht mehr wissen, dass sie ein Ehepaar sind, aber eine tiefe Zuneigung zueinander besitzen, zusammen in einem Bett.

Der Roman schildert direkt, anschaulich und unsentimental ein Leben, das immer enger und kreatürlicher geworden ist, ganz ohne Welt auskommt und keine Welt mehr will. Was früher unendlich peinlich gewesen wäre, das Einnässen etwa, ist nicht mehr schlimm. Tatsächlich wird sogar in einer raffinierten Perspektivenverschiebung zuweilen offenbar, wie seltsam, ja peinlich die Gesunden sind, z. B. "die Bewegungen der Lippen oder der zwischen den Lippen rollenden, kullernden Zunge und die Wellenbewegungen der Gesichtsmuskeln unter der Haut", die der alte Mann beobachtet, wenn jemand zu ihm spricht und er nur mehr sinnlose Laute vernimmt.

Der Roman erzählt nicht nur von einer Krankheit, sondern auch von einer Liebe, die größer ist als die Demenz. Das ist schön. Es ist aber auch traurig. Denn schwerlich werden diese beiden so weiter leben können. Die Einmischung von außen wird nicht ab-, sondern zunehmen, und eines Tages werden sie nicht mehr zusammen sein. Der Glückszustand ist nur geliehen. Und ein wenig idealisiert ist er auch dargestellt, denn was wissen wir schon von den Abgründen und den Ängsten der Orientierungslosigkeit, die ihre Schrecken ja auch in fortgeschrittenen Stadien der Demenz nicht verlieren.

"Niemand kann wissen, wie es im Innern eines demenzkranken Menschen aussieht", sagt der Autor in einem Interview, und er nennt seinen Roman einen "Versuch, mittels der Sprache in ein Gebiet der Sprachlosigkeit einzudringen." Das ist ihm mit seinem ruhigen, präzise und bildhaft geschriebenen Roman gelungen. Er zeigt, was und wie es sein könnte. Er eröffnet uns neue Sichtweisen. Das ist genau das, was gute Literatur tut.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Péter Farkas: Acht Minuten
Aus dem Ungarischen von György Buda
Luchterhand Literaturverlag, München 2011
136 Seiten, 16,99 Euro
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