Ein Land im Corona-Modus

Impressionen eines Stillstands

16:05 Minuten
Zwei leere Schaukeln schwingen an einer Schaukel auf der Halde am Stadtteilpark Dortmund-Gneisenau, hinter der der ehemalige Förderturm der gleichnamigen Zeche zu sehen ist. Zur Eindämmung des Coronavirus hat NRW alle Ansammlungen ab drei Personen in der Öffentlichkeit verboten.
Lahmgelegt: Ganz Nordrhein-Westfalen - hier in Dortmund - ist in Corona-Starre. © picture alliance / dpa / Bernd Thissen
Von Moritz Küpper und Vivien Leue · 30.03.2020
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Das Coronavirus ist winzig klein und legte doch im Handumdrehen das ganze Land lahm. Vor allem Kleinunternehmer und Freiberufler bangen im besonders betroffenen Nordrhein-Westfalen und anderswo um ihre Existenz. Eindrücke nach den ersten Krisenwochen.
Das Rheinufer in Düsseldorf an diesem Wochenende. Die Frühlingssonne strahlt, im Hafen schaukeln einzelne Boote.
Doch: Die Wiesen, der Hafen, die Bänke sind weit weniger voll als sonst. Hier, wo sich sonst viele Menschen in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt versammeln, um nach dem Winter die Frühlingssonne zu genießen, um in ihren Trainingsgruppen Sport zu treiben oder zu picknicken, laufen nur vereinzelt Personen herum. Mal zu zweit, aber häufig alleine. Denn: Picknicken kostet nun – nach dem neuen NRW-weiten Bußgeld-Katalog – 250 Euro Strafe. Bei einem Treffen zum Fußball-Spielen im Park oder im Verein werden 1000 Euro fällig.
Deutschland ist im Ausnahmezustand. Stimmen dazu:
"Es geht um Leben und Tod. So einfach ist das und auch so schlimm."
"Das ist eine ganz harte Herausforderung, wir wissen das."
"Ich habe den Golfkrieg miterlebt, ich habe die Ölkrise miterlebt, ich habe einiges miterlebt. Aber in der Form habe ich es noch nicht erlebt. Vor allen Dingen so plötzlich."
"Wir brauchen Hilfe, und schnell… sonst haben wir hier tatsächlich Pleiten."

Das Land hat sich verändert

Seit ein paar Wochen ist das Land ein anderes, bestimmen Vokabeln wie Kontaktverbot, Ausgangsbeschränkungen und "Shutdown" die Debatte. Der Grund: das Coronavirus. Jener Erreger, der weltweit Auslöser für eine neuartige Lungenkrankheit ist, auch COVID-19 genannt. Aus der chinesischen Stadt Wuhan, wo Ende 2019 der erste Fall gemeldet wurde, verbreitet sich das Virus weltweit – und hat längst auch Deutschland erreicht.
Soldaten und Feuerwehrmänner verladen Kartons mit Schutzkleidung in der Feuerwache. Die Bundeswehr unterstützt die Versorgung des Kreises Heinsberg mit 3.000 FFP2-Masken, 15.000 Mund-und Nasenschutzmasken und 8.000 Schutzkitteln, sowie 2 Intensiv-Beatmungsgeräten. Heinsbeg ist besonders stark von der Corona-Epidemie betroffen.
Die Bundeswehr unterstützt die Versorgung im Kreis Heinsberg.© picture alliance / dpa / Jonas Güttler
Am 25. Februar, vor nicht einmal fünf Wochen, informiert der Landrat des Kreises Heinsberg, Stephan Pusch, über die ersten Corona-Infizierten: "Wir haben den Krisenstab einberufen. Wir haben erste Maßnahmen verfügt, um einer möglichen Ausbreitung des Virus entgegenzuwirken."
Schulen und Kindergärten werden geschlossen, vorerst für ein paar Tage. "Ich denke, die Situation erfordert von uns allen ein wenig Disziplin, aber wir sollten auch nicht in Panik verfallen", appelliert Pusch an die Bürgerinnen und Bürger von Heinsberg.

Heinsberg in einem Atemzug mit Wuhan

Innerhalb der nächsten Wochen sollte aus dem bis dato eher unbekannten Landrat Pusch eines der Gesichter der Coronakrise werden. Und aus Heinsberg – jenem kleinen Landkreis mit rund 250.000 Einwohnern, nördlich von Aachen - der Ort in Deutschland, der fast in einem Atemzug mit dem chinesischen Wuhan genannt wird. Seit nunmehr fünf Wochen ist die Region wie abgeriegelt.
Denn: Im Kreis Heinsberg, genauer gesagt auf der Kappensitzung im Ort Gangelt, verbreitete sich wohl das Virus schneller und stärker als überall sonst im Land. Was ganz Deutschland noch bevorstehen würde, wurde hier schon früh Realität. Und so schilderte der Bürgermeister der Heinsberger Gemeinde Gangelt, Bernhard Tholen, Anfang März am Telefon: "Alles ist zurückgefahren. Dadurch, dass die Kinder zu Hause sind, merkt man wirklich, dass der Straßenverkehr weitaus weniger ist, viel weniger Menschen in den Geschäften sind."

Unterdessen breitet sich das Virus in Nordrhein-Westfalen aus. 2. März: 92 Infizierte – 4. März: 172. Diese Zahlen klingen erst einmal harmlos, Virologen warnen jedoch vor dem exponentiellen Wachstum, sprich: Die Zahl der Infizierten verdoppelt sich aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr rasend schnell.
6. März 324 – 8. März 484.

Die ersten Toten

Am 9. März dann die Nachricht: Im Universitätsklinikum Essen stirbt eine 89-jährige Frau an dem Virus, fast zeitgleich ein Mann aus Gangelt im Kreis Heinsberg. Der Heinsberger Landrat Pusch informiert: "Ich muss Sie leider informieren, dass heute ein 78-Jähriger gestorben ist. Der Fall zeigt, dass besonders ältere und vorerkrankte Personen gefährdet sind."
Tags drauf, am 10. März, springt die Coronakrise dann endgültig auf die Landesebene – Krisenmanagement der nordrhein-westfälischen Landesregierung unter Ministerpräsident Armin Laschet, CDU.
Der verkündet erste Maßnahmen: "Mittelpunkt unserer Maßnahmen muss daher der Verzicht von Großveranstaltungen sein. Deshalb war es hilfreich, dass Gesundheitsminister Spahn sich dafür ausgesprochen hat, dass alle Veranstaltungen über 1000 Besucher abzusagen sind."
Geisterspiel ohne Zuschauer in NRW: Borussia Mönchengladbach - 1. FC Köln am 11. März 2020 in Mönchengladbach. 
Geisterspiel ohne Zuschauer in NRW: Borussia Mönchengladbach gegen 1. FC Köln© picture alliance / Laci Perenyi
Das Fußballspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln wird zum ersten Geisterspiel der Bundesliga. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte März, sind viele Großveranstaltungen schon abgesagt oder verschoben, wenige Tage später werden Messen in NRW komplett verboten – bis mindestens Mitte April.

Gastronomen kämpfen ums Überleben

Viele Wirtschaftsbranchen trifft das hart. Nicht einmal drei Wochen nach den ersten Virusfällen im Kreis Heinsberg stehen Messebauer, Dienstleister, Taxifahrer und Hoteliers den Entwicklungen ohnmächtig gegenüber.
Elke Jährling betreibt den Landgasthof "Im Kühlen Grund" im Norden von Düsseldorf, das Restaurant und die Pension sind ihr Leben.
"So, hier… das ist total neu renoviert." Die 59-Jährige steht in einem hellen, großen Hotelzimmer: Zwei Betten, eine Ausziehcouch, weiß gefliestes Bad. "Und es ist leider viel, viel Geld ausgegeben, und wir wissen noch nicht weiter."
Denn die Gäste bleiben aus, Reservierungen sind storniert. Die vielen Messen mit ihren internationalen Besuchern – abgesagt.
Schon wenige Wochen nach Ausbruch der Corona-Epidemie in NRW ist die Lage vor allem für Kleinunternehmer und Selbständige existenzbedrohend. Norbert Koßmann fährt seit über 30 Jahren Taxi – ihm gehört sein Auto, er ist selbständig und sagt: "Ich bin seit heute Morgen um halb acht dran, jetzt haben wir fünf Uhr - fünf Fahrten!"
Und normalerweise? "Das Doppelte", sagt er. Lange könne er das nicht durchhalten. Seine Kosten laufen ja weiter: "Dann wird es schwierig. Dann muss man an die Reserven."

Seniorentreff in Troisdorf

Andernorts ist die Sorge noch nicht so groß: "Zum Gruße, alles gut?" – "Hier ist ja was los."
Mal mit Krücken oder Rollator, mal langsam zu Fuß, aber alle gut gelaunt, treffen die Mitglieder der Senioren-Union Troisdorf, einer Kleinstadt im Rhein-Sieg-Kreis, zur Mitgliederversammlung ein: "Ich gebe mal nicht die Hand." – "Nee."
Die Knöchel klopfen auf die grüne Tischdecke, neben einer gelben Serviette und vor der dicken Sahnetorte. Während aus Berlin die Nachricht kommt, dass der CDU-Sonderparteitag Ende April, auf dem die Machtfrage in der Kanzlerinnen-Partei geklärt werden soll, auf unbestimmte Zeit verschoben wird, treffen sich hier 22 ältere Menschen – alle in der Corona-Risikogruppe, weil über 60 Jahre alt – und machen sich wenig Sorgen:
"Man muss sich nicht unbedingt die Hände geben."
"Ich geh nicht zu Großveranstaltungen. Und das macht mir keine Sorgen."
Die Zahlen der Infizierten in NRW steigen derweil weiter rasant: 14. März – 1636, 16. März - 2744, 18. März – 3838.

Alle Länder im Corona-Klammergriff

Das Coronavirus ist aber längst nicht mehr nur auf NRW beschränkt. Alle Bundesländer sind betroffen – und uneins darüber, welcher Weg jetzt gegangen werden muss. Wer reagiert wann – und wie?
Es ist diese zentrale Frage, die den März dominieren wird. Die sich an alle politisch Handelnden richtet. Die zu einer nie gekannten Prüfung des demokratischen Systems wird, Fragen an die föderale Struktur aufwirft – und zu einem politischen Wettstreit der anderen Art führt: Wer ist der beste Krisenmanager? Wer macht was zuerst – und verkündet es auch möglichst schnell?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU, sagt: "Wir sind am Beginn einer Pandemie offensichtlich weltweit. Das verunsichert. Und genau deshalb sind wir heute hier. Wir wollen mit Sachinformationen Unsicherheiten abbauen."
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder von der CSU: "Corona hat unser Land fest im Griff … Wir haben alle in den letzten Tagen viel getan. In Deutschland, aber auch in Bayern."
Oder eben der christdemokratische NRW-Ministerpräsident Laschet, der nun – anscheinend vor dem Hintergrund der offenen Machtfrage in der Union – mit Söder aneinandergerät.

Shutdown für Schulen und Kitas

Am Freitag, 13. März, kommt es zu einer weiteren tiefgreifenden Maßnahme. "Wir haben es mit einer sehr ernsten und komplexen Bedrohung zu tun", stellt Armin Laschet an diesem Nachmittag klar und verkündet für sein Bundesland: "Die Schulen in Nordrhein-Westfalen werden durch das Vorziehen der Osterferien ab sofort geschlossen."
Auch Kindergärten werden geschlossen. Bereits am frühen Morgen war allerdings Bayern vorgeprescht, hatte Söder die gleiche Nachricht verkündet.
Damit sich Schulen und Familien in NRW auf die wochenlange Schließung einstellen können, gibt es eine Art Übergangsfrist: Montag und Dienstag sind die Schulen noch für Organisatorisches geöffnet, danach gibt es nur noch eine Notbetreuung.
Das Friedrich-Rückert-Gymnasium in Düsseldorf nutzt die Zeit, um den unteren Jahrgängen noch schnell die schuleigenen iPads auszugeben. Eine Gruppe von Sechstklässlerinnen steht vor dem Schulgebäude an einem geöffneten Fenster.
"Brauchst du ein Ladekabel?" – "Ja!"
Eine provisorische Ausgabestelle – die für ausreichend Abstand sorgt. In der Schule herrscht noch geschäftiges Treiben. Rektorin Pietzko muss viel organisieren, bevor das Kollegium ins Homeoffice geschickt wird.
"Jetzt werden alle Lehrer die Schüler halt über diese Online-Plattform mit Lernmaterialien versorgen, wir haben auch Zugriff auf Lernvideos, die angeschaut werden können", sagt sie.

Die Stunde der virtuellen Klassenräume

Das Gymnasium arbeitet mit einer eigenen Schulcloud. Es gibt virtuelle Klassenräume, Schüler können Fragen posten oder Dateien hochladen – das hilft der Schule nun.
Sport- und Informatiklehrer Sebastian Horn ist vom ersten Feedback der Kinder und Jugendlichen begeistert: "Also ich glaube, das ist für Schüler auch nochmal spannend, weil es für viele ganz, ganz neu ist und dann werden wir sehen, wie es ist, wenn so das erste Tief kommt in zwei Wochen."
Fast zeitgleich zu den Schulschließungen, machen viele Staaten, in Europa und Übersee, ihre Grenzen dicht – der weltweite Flugverkehr bricht ein. Urlauber sitzen fest.
Am Düsseldorfer Flughafen ist es an diesem Wochenende Mitte März gespenstisch still. Nur an ein paar geöffneten Reiseschaltern stehen Menschen mit zum Teil sorgenvollen Gesichtern. Alif Tokmag ist eine von ihnen. Sie sagt: "Ich wollte meine Mutter von Türkei nach Deutschland zurückbringen lassen."
Die Türkei hat kurz zuvor entschieden, ihre Grenzen zu schließen. Nur noch ein paar Tage lang dürfen Menschen ausreisen, danach geht vier Wochen lang gar nichts mehr. "Jetzt versuche ich, den Flug ein bisschen vorzuziehen, bis jetzt ohne Erfolg."
Neben ihr steht eine kleine Reisegruppe. "Ich bin für eine Dienstreise hier und kann jetzt nicht mehr zurück in die Türkei reisen."

Die Sonne lockt - die Parks sind voll

Unterdessen locken die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings die Menschen nach draußen. Die Parks sind voll, in den Cafés sitzen Gäste dicht an dicht. Im Bundeskanzleramt beobachtet man das mit Sorge – und greift zu einer noch nie dagewesenen Maßnahme:
"Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Knapp 13 Minuten versucht sie die Bevölkerung zu ermahnen: "Ich weiß, wie hart die Schließungen in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen."
Der Hintergedanke der Politik: Staatliche Ausgangsbeschränkungen sollen verhindert werden – doch im Wettlauf um den besten Corona-Krisenmanager prescht Bayerns Ministerpräsident Söder am folgenden Freitag erneut vor.
"Ich und wir können nicht verantworten zu warten. Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel. Deswegen warten wir nicht auf endlose Abstimmungen in endlosen Sitzungen und Gremien, sondern wir treffen die Entscheidung aufgrund der gesetzlichen Grundlage, die wir in Bayern haben, und handeln", verkündet Söder.

Krach zwischen Söder und Laschet

Er verhängt Ausgangsbeschränkungen – bayernweit. Das Saarland sowie einzelne Kommunen, beispielsweise in NRW, ziehen nach. Ein Affront gegenüber den anderen Ländern, denn eigentlich hatte man sich darauf verständigt, am Sonntag gemeinsam mit der Bundeskanzlerin eine Linie zu finden. Dort soll es dann – vor allem zwischen Söder und Laschet – gekracht haben.
Nach dem Treffen tritt Laschet vor die Presse: "Um alle Menschen zur Vernunft zu bringen, braucht es aus meiner Sicht weitere, strengere Maßnahmen und ein gemeinsames, geschlossenes Vorgehen von Bund und Ländern."
Der Begriff des Kontaktverbots ist geboren: "Nach unserer Einschätzung ist nicht das Verlassen der Wohnung die Gefahr. Die Gefahr ist der enge, unmittelbare, soziale Kontakt. Meine Überzeugung: Kontaktverbote sind im Vergleich zu einer Ausgangssperre für die Unterbrechung von Infektionsketten verhältnismäßiger, zielgerichteter und besser zu vollziehen."
Gleichzeitig entwickeln sich außerhalb der Politik Zweifel, ob all diese Einschränkungen noch verhältnismäßig sind. Umfragen, die ein paar Tage später publik werden, zeigen zwar, dass 95 Prozent der Deutschen die drastischen Maßnahmen begrüßen, doch gerade in der Wirtschaft wachsen die Sorgen.
"Momentan werde ich nachts wach, und der erste Gedanke ist: Wie geht's weiter vor allen Dingen? Wie geht es auch weiter danach?"

Rettungsschirme nie gekannten Ausmaßes

Abhilfe sollen Rettungsschirme nicht gekannten Ausmaßes bringen. Die Zahlen mit all den Nullen purzeln nur so durch die Republik.
Der Bundestag beschließt einen Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro sowie Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit dem Volumen von 600 Milliarden Euro. Länder wie NRW und Bayern ergänzen. Dennoch werden die ersten kritischen Stimmen lauter. In Bayern, aber auch in NRW, gibt es erste Klagen gegen die drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens.
"Ich bin an diesem Tage froh, dass ich kein Jurist bin, weil ich das Gefühl habe, wir haben im Moment ganz wichtige Fragen zu klären: Es geht um Leben und Tod."
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