Ein Künstler für Künstler

Von Renate Heilmeier |
Skandalös, subversiv, brutal und triebhaft - so ist sie nun mal oft, die menschliche Sexualität. Erst recht, wenn sie auch noch öffentlich gemacht wird. Dies geschieht heutzutage in vielen Bereichen. Und anscheinend umgibt auch immer noch ein Tabu die Arbeiten von Hans Bellmer, einem der wichtigsten Künstler des Surrealismus. Ihm ist die Retrospektive in der Pinakothek der Moderne in München gewidmet.
La Poupée, die selbstgebaute Puppe ist der Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung – und auch des Werkes von Hans Bellmer. Fetisch, Baukasten, Vorlage für unendlich liebevolle Fotografien in Minaturgröße. Und doch wird das Objekt der Begierde gleichzeitig mit jeder Variation demontiert. Michael Semff, Leiter der Staatlichen Graphischen Sammlung in der Pinakothek der Moderne in München:

"Es hat was ungeheuer Menschliches … Gerade diese frühen Vintage Proofs, da ist auf kleinem Format Zartheit, ungeheures Gefühl für Weiblichkeit, das Gegenteil von Vergewaltigung und Gewalt, obwohl in allem was Bellmer gemacht hat, dieser düstere Untergrund unserer Begierden entscheidend ist.

Diese Raumorganisation trägt sehr gut dem Phänomen Bellmer und seinem Ziel Rechnung, indem es die obsessive Verfolgung einer Idee, der Puppe, fokussiert. Er wollte menschliche Struktur in seine Bausteine zerlegen, wie Alphabet, um hernach wieder von verschiedenen Seiten die Buchstaben neu zusammenzufügen. Spiegelung, Doppelung, die Puppe hat zwei Beine nach oben und zwei nach unten. Fetisch. Alle Möglichkeiten des Körperlichen erkunden…"

So lösen sich nicht nur in den Fotografien der Puppe, sondern auch in den Zeichnungen die Bestandteile der Körper auf – in Knochen und Höhlen, in Höhenlinien und Brüste. Doch noch wahrhaftiger als das Exponat der 1935 entstandenen Puppe Nummer zwei, sind die Abbilder der nur auf Silbergelatine erhaltenen ersten Poupée. Es ist ein bisher wie mit Marilyn: forever young.

Multiplikation ist eines der Stilmittel, das immer wieder auftaucht bei Hans Bellmer, und auch wenn das Ouevre etwas zutiefst Anarchisches in sich trägt, so legt dies der in München gewählte Titel der Ausstellung "ein Ingenieur des Eros" nicht unbedingt nahe. In Paris im Centre Pompidou hieß sie noch "Anatomie des Begehrens". Franzosen und Deutsche haben eben einen unterschiedlichen Zugang zur Liebe.

Bellmer, der schon in den 20er Jahre Kontakt zu André Breton und den Surrealisten in Paris hatte, war 1938 endgültig nach Frankreich übergesiedelt. Ein deutscher Surrealist blieb er trotzdem, auch wenn er seinen deutschen Pass zerriss. Michael Semff sieht in Bellmers Kunst auch und gerade den großartigen Zeichner, der sich an den altmeisterlichen Stil des frühen 16. Jahrhunderts anlehnt:

"Dieses Ingenieurhafte ist in allem von Bellmer drin – so, als könnte man Sexualität auf dem Reißbrett planen, so nehmen sich manche Zeichnungen aus - da gibt es die peniblen Strichelungen, Hintergründe mit Ziegelmauerwerk, sehr klar und strukturiert. Fast ein Konstrukteur."

Die letzte große Bellmer-Retrospektive in Deutschland fand übrigens 1967 statt, eine Zeit des Aufbruchs. Und so blieb auch vor fast 40 der erwartete Skandal um seine Hardcore-Kunst aus. Wieland Schmied, der die Ausstellung in Hannover damals zusammenstellte

"Es verlangt eine Kennerschaft, so direkt so unmittelbar, dass es einen anspringt… Und wer nicht bereit ist, sich darauf einzulassen, das ist auch die Rolle des Eros in unserem Leben, welche ungeheure Sprengkraft das bewirkt…"

Schmied lernte Hans Bellmer noch selbst kennen und erinnert sich vor allem daran, dass für Bellmer die Zeit der großen Armut erst in den späten 60er Jahren zu Ende ging und die Sammler gerade erst anfingen, seine Kunst zu schätzen:

"Und das war ein Augenblick, wo ich einen Widerspruch erlebte, weil andere Künstler, wie de Chirico mit größtem Respekt von ihm gesprochen haben… Er war eine Art Steinbruch für andere Künstler… auch enttabuisiert, verschleiert, künstlerisch umgesetzt worden, Cindy Sherman… in denen Idee der Puppe fortlebt (ca. 10.00). Und so war es dass Hans Bellmer ein Künstler für Künstler war damals schon und auch geblieben ist…"

Auch wenn man in München hofft, dieses mal möglichst vielen – vor allem jungen Menschen – den Künstler näher zu bringen. Immerhin hat sich inzwischen einiges getan in der Kunstszene. Die Wucht der Abgründe der Sexualität sehen wir fast täglich bei der Künstlergeneration nach Hans Bellmer – ob bei Paul McCarthy oder Matthew Barney. Die surrealistische Peepshow kann beginnen. "Es gibt keine schöne Oberfläche ohne eine schreckliche Tiefe" – dieser Satz von Friedrich Nietzsche steht über den labyrinthisch angelegten Räumen der Ausstellung – und auch über dem Werk Bellmers, das zunächst einmal fordert: in die Tiefe zu springen.


Service:
Die Ausstellung ist bis zum 27.08.06 zu sehen.