Ein Kolonialkrieg der Bilder

Von Jochen Stöckmann |
Die Fotografie hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu nie als Kunst, immer nur als Handwerkszeug für sein Fach, als Instrument unvoreingenommener Beobachtung gesehen. Bester Beweis sind 600 Fotos, die Bourdieu Ende der fünfziger Jahre in dem von Krieg und Bürgerkrieg geschüttelten Algerien aufgenommen ist. Darauf sind keine spektakulären Szenen zu sehen, Bourdieu sah tiefer, spürte den Verwerfungen im Alltag nach.
Weder Soldaten noch Waffen, sondern Fotos entschieden über den Ausgang des Algerienkrieges. Mitte der Fünfziger stand es nicht schlecht für Frankreich und seine Armee: Es gab nur wenige hunderttausend Fernsehgeräte im Land, eine einzige Illustrierte wie Paris-Match dagegen hatte eine Auflage von 1,7 Millionen Exemplaren. Und diese Massenblätter gewährten dem Militär wirksame Auftritte, große Bildreportagen zeigten Fallschirmjäger und Gendarmen als Ordnungshüter und Friedensstifter.

Als der holländische Fotograf Krys Taconis 1957 ganz unvoreingenommen die Kämpfer der Befreiungsfront FLN für eine Reportage begleitete, unterdrückte die ansonsten für ihre Liberalität berühmte Agentur Magnum diese Bilder, wohl auch unter dem Einfluss ihres prominenten Mitgliedes Henri Cartier-Bresson. Wenig später aber eskalierte der Krieg der Bilder, konstatiert Robert Fleck, Kurator der Ausstellung in der Hamburger Deichtorhalle:
„Die meisten Schockfotos sind von Fotografen gemacht worden, die in der Armee waren. Diese Fotos wurden aufbereitet, sehr oft sind es Vergrößerungen, verbreitet zunächst von der französischen Armee oder vom Generalgouverneur. Und dann gibt es Folterfotos, die von der algerischen Seite als Gegenstrategie verbreitet wurden.“
Auch wenn sie quantitativ kaum gegen die Flut französischer Propagandabilder ankamen, so trugen die erschütternden Fotodokumente von Folteropfern letztlich zum Sieg der algerischen Seite bei. Außerdem machte sich in Reihen des französischen Militärs eine Bewegung breit, deren Einfluss für Robert Fleck gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist:
„In diesem Krieg waren 2,5 Millionen französische Wehrdienstleistende eingesetzt, und die haben sich ganz massiv Kleinbildkameras gekauft. Die Amateurfotografie hat eine ganz große Rolle gespielt, um die Daheimgebliebenen zu informieren, und der öffentlichen Meinung mehrheitlich den Eindruck zu vermitteln, das sei ein Kriegsgeschehen, aus dem man einfach nur so schnell wie möglich herauskommen muss, auch wenn die Kolonie unabhängig wird.“
Um die Wirkung der privaten Soldatenfotos zu konterkarieren, setzte die Armee eine ganze Reihe von wehrpflichtigen Fotoamateuren als offizielle Militärreporter ein. Der General Bigeaud etwa rüstete einen ehemaligen Kunststudenten mit einer Kamera aus, ließ sich und seinen Stab von diesem Gefreiten namens Marc Flament wie von einem Hoffotografen in Szene setzen. Daneben musste sogar der Todeskampf eines einfachen Sergeanten, der wie in einer Kreuzigungs- oder Märtyrerszene von drei Kameraden gehalten wird, als pathetisches Durchhaltebild herhalten:
„Fotos von Marc Flamand, die sehr interessant sind, weil sie eine an Arno Breker geschulte Ästhetik verbreiten, die dann aber auch unmittelbar in Paris-Match Eingang gefunden hat.“
Einen höchst ungewöhnlichen Kontrapunkt zu dieser präformierten Wahrnehmung setzen die wieder entdeckten Aufnahmen des Soziologen Pierre Bourdieu. Als Feldforscher, so erläutert „Camera Austria“-Herausgeberin Christine Frisinghelli, als Wissenschaftler zwischen den verfeindeten Lagern hatte Bourdieu mit Bedacht die Kamera als Arbeitsinstrument gewählt:
„Er war als ehemaliger Soldat sehr gefährdet, beide Seiten hätten entweder als Spitzel oder als konspirativen Mittäter bezeichnen können. In dieser Situation ist Fotografie auch eine Möglichkeit, den Leuten zu sagen: Ich interessiere mich für euch, ich interessiere mich für euer Schicksal, ich möchte beschreiben, was ihr erlebt und dazu das Mittel Fotografie einsetzen.“
Bourdieu sah mitten im blutigen Bürgerkrieg nicht die aufregende „action“, nicht Gefechte, Razzien oder Bombenattentate, sondern dokumentierte nüchtern, aber mit großer Sensibilität für kaum wahrnehmbare Details die Auswirkungen des Krieges, die schleichende Zerstörung der dörflichen Berberkultur und auch des städtischen Alltags. Damit, so Fleck, machte Bourdieu aus der Not eine Tugend:
„Der Krieg taucht bei Bourdieu überhaupt nicht auf. Als normaler Mensch kam man auch an diesen Krieg nicht heran. Wenn wir heute in den Irak fahren würden, könnten wir auch den krieg nicht fotografieren. Und man sieht hier – sehr interessant – dass der Krieg zunächst nur fotografiert von unabhängigen Fotografen, die mitgezogen sind mit den Guerilla-Kämpfern.“
Diese Art der Agentur- und Reportagefotografie war – vor Bekanntwerden der grausamen Hinrichtungen angeblicher „Kollaborateure“ durch die Befreiungsfront – moralisch sicher einwandfrei, zeigte aber auch wieder nur entschlossen dreinblickende Männer mit ihren Waffen. Doch das hatte damals, um 1960, enorme Bedeutung, erklärt Robert Fleck:
„Von den unabhängigen Fotografen waren dreiviertel deutsche Fotografen, die in Algerien in dieser völlig undurchsichtigen Kriegssituation fotografiert haben. Man hat oft gesagt, die deutsche Linke habe sich am Algerienkrieg rekonstituiert, in der Adenauer-Zeit. In gewisser Weise hat auch die deutsche Fotografie in vielen Aspekten sich abgearbeitet an dem Algerienkrieg.“
Neben Titelblättern von Paris-Match oder dem Familienalbum eines in Algerien eingesetzten Gendarmen dokumentieren jetzt bislang unveröffentlichte Reportagen des späteren „GEO“-Gründers Rolf Gillhausen und ein Schreckenskabinett drastischer Folterfotos alle Facetten der Kriegsfotografie – so scheint es. Tatsächlich aber ist die französische Gesellschaft bis heute traumatisiert, offiziell darf der Konflikt erst seit 1999, nach einem Beschluß der Nationalversammlung, als „Krieg“ bezeichnet werden. Und 120.000 Aufnahmen im Militärarchiv von Fort d’Ivry sind bis heute unter Verschluss, nicht ohne Grund:
„Zum Beispiel hat mir der Künstler Jean-Pierre Raynaud erzählt, dass er als Wehrpflichtiger in einem französischen Büro in Paris eingesetzt war: Er musste zwei Jahre lang diese Fotos sichten, die aus Algerien kamen. Und daraufhin blieb er dann mehrere Jahre deprimiert im Bett liegen und hat sich dann einmal aufgerafft und gesagt, ich muss wieder rausgehen. Und dann ist er Künstler geworden.“
Die praktischen Konsequenzen aber zog – ganz ohne Kunstanspruch – Pierre Bourdieu, der mit der Kamera nach seiner Zeit als Wehrpflichtiger in Algerien Feldforschung betrieb, betont der Soziologe Franz Schultheis:
„Er hat das Spektakuläre vermieden, für ihn war es wichtiger, das hohe Maß an struktureller Gewalt sichtbar zu machen. Das ist ja wie ein Eisberg: In Europa nimmt man den Krieg wahr, diese zehn Prozent an massiver, martialischer Gewalt. Die neunzig Prozent unter der Wasseroberfläche, diese strukturelle Gewalt des Kolonialismus nimmt man nicht wahr.“

Service:

Die Ausstellung „Pierre Bourdieu – Der Algerienkrieg und die Fotografie“ ist bis zum 3. September 2006 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.