Ein Kinderbuch für Erwachsene

Rezensiert von Jörg Magenau |
Nach ihrem eleganten Debüt "Ich muss los" über einen einzelgängerischen jungen Mann und ihrem zweiten Roman "Insel 34" hat Annette Pehnt mit "Der kleine Herr Jacobi" ein Kinderbuch für Erwachsene geschrieben. Die skizzenhaften Kurzgeschichten funktionieren wie die in Glaskugeln still gestellten Szenerien, die man schütteln kann, damit es schneit.
Eigentlich schade, dass Kinderbücher nur für Kinder sind, mag sich Annette Pehnt gedacht haben. Also hat sie mit "Der kleine Herr Jacobi" ein Kinderbuch für Erwachsene geschrieben. Zumindest sieht es aus wie ein Kinderbuch – kleinformatig, dünn, fast quadratisch und versehen mit Illustrationen von Jutta Bauer. Kinder aber würden sich bei der Lektüre vermutlich langweilen. Die Miniaturen der 1967 geborenen, in Freiburg lebenden Autorin funktionieren wie die in Glaskugeln stillgestellten Szenerien, die man schütteln kann, damit es schneit. Es sind skizzenhafte Kurzgeschichten mit wenig Handlung und mit einer Hauptfigur, die so auf die Welt blickt, dass sich noch die hässlichste Straße in eine Märchenlandschaft verwandelt.

Annette Pehnt hat schon in ihren ersten Büchern eine Vorliebe für ein wenig wunderliche Menschen bewiesen. Ihr elegantes Debüt "Ich muss los" über einen einzelgängerischen jungen Mann mit Bindungsschwierigkeiten war von bewundernswerter Leichtigkeit. Pehnt bezauberte durch den dezenten Dreh der Figuren ins Skurrile, ohne dabei den festen Boden eines realistischen Erzählens zu verlieren. Der zweite Roman, "Insel 34", nahm das Thema der Unzugehörigkeit mit einer ähnlich veranlagten, einzelgängerischen Hauptfigur noch einmal auf. Mit dem kleinen Herrn Jacobi betreibt sie nun die Stilisierung des Sonderlings zum Typus. Er, der sich durch den Tag träumt, ist nicht ganz von dieser Welt. Im wirklichen Leben würde er wahrscheinlich schnell zugrunde gehen. In der Literatur aber ist er ein Held der Verweigerung oder des Abstandhaltens.

Der kleine Herr Jacobi hat außer seiner Putzfrau Stella niemanden, mit dem er regelmäßig spricht, und er scheint das auch nicht zu vermissen. Die Kinder hänseln ihn, weil er am liebsten in Socken und ohne Schuhe herumläuft – selbst wenn es regnet. Doch die Kinder sind ihm von allen am nächsten, weil sie wie er nutzlose Dinge sammeln und nutzlose Spiele spielen. Auf jede Antwort, die sie auf ihre Fragen erhalten, reagieren sie genau wie er mit einem "Ach so" – als könne sie nichts verwundern und aus der Ruhe bringen.

Annette Pehnt gerät gelegentlich in die Nähe eines literarischen Kindchenschemas und romantischer Verklärungen von Niedlich- und Putzigkeiten. Doch gerade in Zeiten, in denen die ökonomische Rationalität alles dominiert und bloß noch über Arbeitsplätze, Steuer, Rente und andere Wichtigkeiten gesprochen wird, ist es wohltuend, wenn ausnahmsweise einmal das Beiläufige, das Unwichtige, das Kleine ganz groß gemacht wird.

Der kleine Herr Jacobi sammelt Mineralien und freut sich an allerlei Steinen, die er auf der Straße findet. Morgens steht er zeitig auf, um Brot zu backen. Mit der Brotbackmaschine, die er geschenkt bekommt, kann er aber nichts anfangen. Überhaupt die Dinge: Sie sind zum Anfühlen und Anschauen da, aber nicht, um sie zu benutzen. Alles Utilitaristische ist ihm fremd. Sein Fahrrad putzt er, damit es schön glänzt, aber Fahrradfahren kann er nicht. Sein grüner Regenschirm ist ihm viel zu sperrig, deshalb lässt er ihn an einer Bushaltestelle stehen. Im Ruderboot stören ihn eigentlich bloß die Ruder. Also wirft er sie ins Wasser und lässt sich treiben. Und eines Tages beschließt er, alle Dinge des Lebens – von der Thermoskanne bis zum Hirsekissen – in Kisten wegzupacken, weil er doch eigentlich auch ohne sie auskommt.

Wenn Annette Pehnt mit den Augen dieses Sonderlings die Welt betrachtet, dann verwandeln sich auch die alltäglichsten Dinge. Der registrierende, niemals abschätzige, eher unbeteiligte Blick macht die Welt auf rätselhafte Weise reicher. Dieser Blick verfremdet. Er ist traurig und komisch zugleich. Komisch, weil er die Dinge aus ihrer Funktion herauslöst und sie gewissermaßen nackt zur Kenntnis nimmt; traurig, weil in dieser Art der Wahrnehmung auch sehr viel Einsamkeit steckt. "Eines Tages hatte der kleine Herr Jacobi genug von den Menschen", beginnt die letzte Geschichte, in der er beschließt, als Obdachloser in den Wald zu ziehen. Freiheitsdrang, Unkonventionalität und Ausgestoßenheit lassen sich da kaum noch auseinander halten.

Annette Pehnt: Der kleine Herr Jacobi. Mit 46 Illustrationen von Jutta Bauer. Piper Verlag, München 2005, 82 Seiten, 12,90 Euro