Ein Kampf zwischen Kopf und Bauch

Von Johannes Halder |
Braucht Gesellschaft Kunst? Die Staatliche Kunsthalle in Baden stellt die Frage rein rhetorisch und untersucht in ihrer neuen Schau "Bilderbedarf", wie und wodurch Kunst in den letzten sechzig Jahren in unsere Gesellschaft eingewirkt hat.
Am Anfang steht ein Schock. Kaum hat man einen dunklen Gang passiert, steht man in einem schwarzen Raum des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar vor einem riesigen leuchtenden Rechteck, das mit satten 14.000 Watt die Netzhaut attackiert. Das neongrelle Lichtbild blendet, dass die Augen schmerzen, und wer darauf wartet, dass gleich eine Vorführung beginnt, wartet vergeblich. Zu sehen ist nichts, nur Leere und Licht.

Das leere Leuchtfeld ist eine Metapher für eine Gesellschaft, der die Bilder entzogen sind, soll heißen: Ein Mangel an Bildern quält wie eine Folter. Und was dann in der Schau zu sehen ist, sagt Kunsthallenchef Johan Holten, soll belegen, wie Kunst gesellschaftlich noch immer wirken kann.

"Diese Werke wurden tatsächlich rezipiert in Kreisen, die weit über ein Kunstpublikum hinausgehen, die in der Gesellschaft einwirkten und auf unterschiedliche Art und Weise dort zu Symbolen oder Bildern wurden, die einen Effekt hatten."

Der Kurator bemüht dafür zum Beispiel die in symbolträchtige Bilder übersetzte Künstlerfreundschaft zwischen dem Maler Jörg Immendorff im Westen und dem später ausgebürgerten A.R. Penck im Osten des geteilten Deutschlands oder die kritischen Plakate von Klaus Staeck, die in den 70er-Jahren die Gemüter erhitzten bis in den Bundestag hinein – grafische Attacken, die von den Betroffenen immer wieder, wenn auch stets vergeblich, mit Strafanzeigen pariert wurden.

Die Schau rekapituliert auch die listig-geniale Asylantenabschiebeaktion, mit der Christoph Schlingensief bei den Wiener Festwochen einst die reaktionäre Fremdenpolitik des Rechtspopulisten Jörg Haider an den Pranger stellte. Neben der Wiener Staatsoper hatte Schlingensief ein Containerdorf mit Asylbewerbern installiert, die – welch böser Scherz – durch Publikumsvotum des Landes verwiesen werden sollten.

Volkes Stimme wurde nicht gehört, als Kanzler Helmut Kohl 1993 eigenmächtig in die Gestaltung eines zentralen Denkmals eingriff und eine Kleinplastik von Käthe Kollwitz für politische Zwecke missbrauchte.

Das wird hier ebenso gezeigt wie Christos Verhüllung des Berliner Reichstags 1995, ein bis heute populäres Medienspektakel, dem ein jahrzehntelanges politisches Tauziehen vorausgegangen war.

Einmischungen der Kunst in gesellschaftliche Prozesse sind mittlerweile extrem selten geworden. Leider. Und mit etwas Wehmut erinnert ein eigener Raum an die zweite "documenta" von 1959 und ihren Bilderstreit, dessen ganze Wucht man noch einmal erfährt, wenn man in den für die Besucher ausgelegten Zeitungsreprints nachliest, wie selbst ein liberales Blatt wie "Die Zeit" sich über "minderwertige Machwerke" empörte. Es ging um abstrakte Bilder, wohlgemerkt.

Johan Holten: "Und deswegen meinen wir schon, dass die ‘documenta’ gerade ein Moment ist, bei dem es sich zeigt, dass beim Streiten über die Wertigkeit dieser Bilder, man sich nicht nur stritt über eine Richtung von Kunst. Man stritt sich eigentlich über einen Wertekanon, über ein System, über auch sozusagen gesellschaftliche Werte, mit denen man sich gerne identifizieren oder nicht identifizierten wollte, und damit auch ein ganz klarer Beleg dafür, dass diese Bilder so viel mehr waren als nur Ästhetik."

Kann Kunst also die Gesellschaft bewegen? Kann Kunst gar Berge versetzen? Der Künstler Francis Alÿs hat es symbolisch versucht. Am Rande der peruanischen Hauptstadt Lima ließ er vor acht Jahren ein halbes Tausend Freiwillige mit Hacken und Schaufeln gemeinsam den Versuch unternehmen, einen ganzen Berg ein paar Zentimeter zu versetzen. Das war natürlich eine Utopie, doch die Geste zählt, der Glaube, das Signal.

Die ebenso kompakt wie klug inszenierte Ausstellung ist auch Ausdruck eines Unbehagens über die zunehmende Vereinnahmung der Kunst durch den Markt als eine Art Lifestyle-Produkt und Statussymbol für gehobene Kreise. Und sie ist nicht zuletzt eine mutige Positionsbestimmung der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, die ihre Rolle zwischen traditionsreichem Kunsttempel und gelegentlichem Talentschuppen definieren muss. Vor allem seit das Burda-Museum in direkter Nachbarschaft der Kunsthalle mit kulinarischen Großausstellungen das Publikum vor der Nase wegschnappt.

Das eine muss nicht schlechter sein als das andere. Es ist ein Kampf zwischen Kopf und Bauch, und Johan Holten hat sich entschieden, lieber der Kopf zu sein und Kunst zu zeigen, die sich einmischt, und zwar an einem Ort, an dem diese Kunst jenseits von kommerziellen Interessen diskursiv verhandelt wird. Und dazu muss er sich auch Fragen stellen wie diese:

"Was meine ich eigentlich, warum wir öffentliche Institutionen im Museumswesen weiterhin brauchen? Was sind die Antworten, die wir auch liefern müssen dafür? Und da können wir uns auch nicht einfach zurücklehnen und sagen: Ja uns gab es immer, deswegen gibt es uns auch weiterhin. Da müssen wir auch mitarbeiten und darüber nachdenken und da auch Antworten liefern."

Die Ausstellung "Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?" ist bis zum 17. Februar 2013 in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu sehen.