Ein Kammerspiel an die Wand gespielt

Von Natascha Pflaumbaum |
Seine erste Produktion für die Frankfurter Kammerspiele wirkt so, als habe Oliver Reese sich erschwerte Bedingungen auferlegt. Die Bühne ist knapp eineinhalb Meter tief: eine glatte Wand aus Kupfermodulen begrenzt den Raum, ist karge Kulisse. Die Schauspieler müssen sich durch einen engen Schlitz in dieser Kupferwand auf die Bühne zwängen. Viel Raum bleibt also nicht für Racines "Phädra" – ein Kammerspiel, an die Wand gespielt.
Reeses Verheißung offenbart sich gleich in der ersten Szene, in der Felix von Manteuffel in aller Seelenruhe eine Kerzenlichterkette am Bühnenrand entzündet. Der bespielbare Raum wird noch einmal verengt. Das Licht schimmert diffus, die Lichterkordel spiegelt sich kitschig in der Kupferwand: Palastlicht.

Wenn Felix von Manteuffel als Theramenes und Christoph Pütthoff als Hippolytos in dieser ersten Szene die Ausgangsbedingungen des folgenden Psychospiels verhandeln, wenn dann Stephanie Eidt mit schwarzer Prada-Sonnenbrille, schwarzem Regencape und flachen Ballerinas an der Kupferwand entlang auf die Bühne schleicht, dann ist das sehr nah und bedrückend, man schaut nicht zu, sondern erlebt mit: Hier braucht es in der Tat nichts anderes als diese Schauspieler. Phädra, das Monster, die vom Sex Besessene, zeigt gleich zu Beginn die andere Seite ihres Hasses: ihre Depression. Sie weint. Eine Mischung aus Zorn, Selbstmitleid, echter Trauer treibt ihr immer wieder die Tränen in die Augen.

Mit Phädras todessehnsüchtiger Verdammung der Sonne kommt das Spiel aus erfüllten und unerfüllten Sehnsüchten, Lügen, Projektionen, fehl geleitetem Hass, Verletzung und Erniedrigung in Gang. Stephanie Eidt spielt kein Monster, sondern eine Frau, die sich in ihren Gefühlen verstrickt hat, die nicht anders kann – das spürt man – weil sie mit Abweisung nicht umgehen kann. Was sich in den folgenden zwei Stunden vor dieser Kupferwand abspielt, ist ein großes Gespräch mit immer wechselnden Teilnehmern, bei dem Blicke alles sagen. Reese staffiert seine Schauspieler nicht mit großen Gesten und Posen aus: er lässt sie einander anschauen und reden.

Die Sprache, die Simon Werle in seiner Übersetzung dafür gefunden hat, macht Racines Stück überhaupt erst sprechbar. Werle wählt nicht rein alexandrinisches, aber jambisches Versmaß, setzt mitunter auch den Akzent auf die sechste Silbe, verzichtet auf Reime und schafft es so, die Sprache auf angemessene Distanz zu setzen, ohne an Präsenz zu verlieren.

Reese hat Menschen von heute auf die Bühne gebracht: Aricia (Henrike Johanna Jorissen) trägt ein fließendes graues Abendkleid, darüber eine weiße Adidas-Trainingsjacke, Hippolytos (Christoph Pütthoff) eine graue Flanellhose auf eine hellgraue Lederjacke, Theseus (Till Weinheimer) einen dieser abgewetzten Nadelstreifenanzüge mit weit ausgeschnittenem schwarzen T-Shirt, mit dem sich Männer in der Midlife-Crisis gern in schimanskihafte Männlichkeit retten.

Reese spielt das Stück mit gutem Gewissen an die Wand, weil er ausgezeichnete Schauspieler hat, die diese monströse Familiengeschichte in einer dramatischen Familienaufstellung unter sich verhandeln. Viel Applaus für alle.