Ein Jahreswechsel an der Zeitenwende

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur |
2011 wird als ein Jahr außerordentlicher Veränderungen haften bleiben: Atomausstieg und arabischer Frühling sind nur zwei Beispiele. Noch ist nicht sicher, wie die Revolutionen in Nordafrika und Arabien ausgehen. Aber wir sollten nicht verzagen, meint Peter Lange.
Nur an der falschen Jahreszahl war Ende 1986 zu bemerken, dass die Silvester-Ansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl vertauscht worden war. Ansonsten klang sie wie immer – same procedure. Bliebe es ebenso lange unbemerkt, wenn Ende 2012 die Ansprache der Kanzlerin von 2011 wiederholt würde? Sehr unwahrscheinlich, denn dieses Jahr ist ähnlich wie 1989 mit ganz starken Schlüsselbegriffen verbunden: Fukushima, arabischer Frühling, europäische Schuldenkrise. 2011 wird als ein Jahr außerordentlicher Veränderungen haften bleiben.

In diesem Jahr ging die These von der verantwortbaren Kernenergie über Bord. Nach Fukushima gibt es in Deutschland keinen Politiker mehr von Rang, der die Verantwortung übernehmen will. Eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, so haben alle gelernt, ist keine Versicherungsgarantie. Der Umbau der Energieversorgung ist eine Jahrhundertaufgabe für die ganze Gesellschaft, nur dass er viel schneller vonstatten gehen muss. Die politischen Bedingungen dafür sind gegeben. Und trotzdem gilt es aufzupassen, dass nicht eine ideologische Doktrin durch eine andere ersetzt wird, auch wenn die grünlackiert ist. Der mündige Bürger, ob mit oder ohne Wut, muss schon genau hinschauen.

2011 ging in Nordafrika und Arabien der Rest jener Sicherheitsdoktrin zu Bruch, die noch aus dem Kalten Krieg stammte, und die nur in der Konfrontation zweier hochgerüsteter Machtblöcke ihre Rechtfertigung hatte: Politische Stabilität ist das oberste Gebot, von wem auch immer garantiert, ob autoritär, despotisch, mit verbrecherischen Mitteln – das war alles zweitrangig. Hauptsache es herrschte Ruhe und die Geschäfte gingen gut. In Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen haben sich die Menschen befreit, von diesen Machthabern und auch von dieser aufgezwungenen Doktrin.

Wohlmeinende westliche Außenpolitiker weisen voller Sorge darauf hin, dass eine Phase von Instabilität und Unsicherheit drohe, dass nicht ausgemacht sei, ob es am Ende friedlich und demokratisch zugeht. Damit haben sie sicher recht, und trotzdem ist das Ende 2011 ein Ausdruck alten Denkens. Die Menschen haben für sich entschieden, auch lebensgefährliche Risiken einzugehen. Die ungewisse Perspektive einer demokratischen und menschenwürdigen Zukunft ist ihnen lieber als die Gewissheit politisch zementierter Verhältnisse mit korrupten Eliten und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit.

Auch die Schuldenkrise in Europa bedeutet die Abkehr von gewohnten Denkmustern. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass über viele Jahre mit den angesparten Altersrücklagen der Deutschen der kreditfinanzierte Konsum etwa der griechischen Gesellschaft mitbezahlt wurde. Was wäre so schlimm daran gewesen, einen Teil dieses Geldes über höhere Steuern und Sozialabgaben dort einzusetzen, wo es in Deutschland gebraucht wird: In den Schulen und Universitäten oder in der Pflege.

Wieso ist ausgerechnet die reichste und produktivste deutsche Gesellschaft, die es je gab, angeblich nicht in der Lage, ihre Alten angemessen zu versorgen? Ja, es gibt einen demografischen Wandel, und die Alten werden mehr. Aber dafür werden die Erbschaften der weniger werdenden Jungen immer größer. Auch hier gilt es, einen verfestigten ideologischen Konsens zu knacken, der nur Banken und Versicherungen gedient hat.

Das Jahr 2011 kann der Scheitelpunkt einer Zeitenwende gewesen sein. Ob es so war, können dereinst die Historiker genauer sagen. Aber schon jetzt ist klar: Sicher ist 2012 nur die Unsicherheit – alles ist in Bewegung; es gibt große Potentiale zum Guten wie zum Schlechten und der Ausgang ist offen.

Das auszuhalten fällt einer saturierten Gesellschaft wie der unseren schwer, die in ihrer Mentalität die Traumata des 20. Jahrhunderts immer noch mitschleppt. Und die deshalb noch immer mehr auf Sicherheit und Rechtsstaat setzt als auf Freiheit und Demokratie. Wir haben weniger Grund zur Verzagtheit als zwei Drittel der Menschen auf diesem Globus. Wenn die aber nicht verzagt sind, sondern mehr und mehr ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, dann haben wir erst recht keinen Grund zu jammern.
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