Ein Jahr, viele Erinnerungen

Von Andreas Robertz |
Die Kuratoren von "1969" haben aus dem MoMA-Archiv einen Querschnitt der künstlerischen Arbeiten dieses Jahres erstellt. Dabei setzen sie auf Themen-, Produktions- und Perspektivenvielfalt. Das Ergebnis ist ein Sammelsurium unterschiedlichster Künstler und Exponate.
1969 - was fällt uns zu diesem Jahr ein? Eine Zeit der Unruhe, der Hoffnung und des Aufbegehrens. Led Zeppelin geben ihr erstes, die Beatles ihr letztes Konzert, Unbekannte beschmieren im Metropolitan Musem of Art Bilder alter Meister, Nixon, Golda Meir, Willy Brandt und Georges Pompidou, der Wettlauf ins All erreicht seinen Höhepunkt, das Jahr der Stonewall Unruhen in New York, Woodstock, Hair, der Vietnamkrieg, das Farbfernsehen wird Normalität, und das Museum of Modern Art wurde 40, was es mit einer großen Ausstellung feierte. 40 Jahre später eröffnet eine neue Ausstellung mit dem Titel "1969" im PS1, dem Performance Center des MoMa in Queens, die dieses Jahr und jene alte Ausstellung in den Mittelpunkt rückt.

"1969 war ein sehr interessantes, tumultreiches Jahr und es kennzeichnet die Hälfte der Museumsgeschichte des MoMA bis jetzt."

Die Kuratoren Neville Wakefield, Michelle Elligot und Eva Respini haben aus dem MoMA-Archiv einen Querschnitt der künstlerischen Arbeiten des Jahres 1969 erstellt. Dabei setzen sie auf Themen-, Produktions- und Perspektivenvielfalt jenes Jahres. Das Ergebnis ist ein Sammelsurium unterschiedlichster Künstler und Exponate. So kann man zum Beispiel kleinere, minimalistische Skulpturen von Sol LeWitt und Carl Andre, abstrakte Gemälde und Zeichnungen von Helen Frankenthaler, Filme von Andy Warhol und Michael Snow und politisch motivierte Arbeiten der Art Workers Coalition und Martha Rosler sehen. Im Kontext der rustikalen, alten Schulräume des PS1 wirken diese Exponate dabei eher nostalgisch, manchmal eher verstaubt und zeitig, die Aura der MoMA-Archive ist ihnen bis hierher gefolgt. Das ist umso interessanter, als dass die künstlerische Produktion somit nicht die Stimmung jener Zeit widerspiegelt.

"Bei dem Gedanken an 1969 denkt man als Erstes an Sex, Drugs und Rock’n' Roll, aber in der ursprünglichen Ausstellung haben wir nicht viel davon gefunden. Wir haben für diese Ausstellung junge Künstler eingeladen, um zu intervenieren und das Jahr 1969 oder die Ausstellungsstücke selbst zu reflektieren."

Diese kleine Gruppe von jungen Künstlern, passenderweise von den Kuratoren als "Interventionalists" bezeichnet, soll diesen Eindruck stören, kommentieren und Vergessenes neu benennen. So ist ein ganz neuer Raum in Erinnerung an die Künstler Joseph Beuys und Robert Morris entstanden, die in dem ursprünglichen Material nicht vorhanden waren, oder nicht kommentierte Ereignisse wie die Mondlandung oder die Märsche der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Besonders attraktiv sind zum Beispiel die lauten und durchaus ironischen Installationen der Bruce High Quality Foundation, die einen alten Industriestaubsauger zu einem Bilderarchiv umgebaut haben, in dem man auf einem kleinen eingebauten Monitor eine Flut von Bildern von den späten 60ern bis heute sehen kann, die zu der passenden Musik von Billy Joel von einem digitalen Feuer verzehrt werden.

Mitten auf dem Flur scheppert ein Kühlschrank mit geöffnetem Eisfach, in dessen Türfach eine angebrochene Packung Ben-&-Jerry-Eiscreme neben einer für jeden amerikanischen Haushalt obligatorischen Packung Baking Soda der Firma Arms & Hammer stehen. Im Gefrierfach selbst befindet sich ein kleiner Fernseher, aus dem man abwechselnd eine Collage von Bildern aus dem Vietnamkrieg, der Entdeckung der chinesischen Terrakotta-Krieger und Aufnahmen eines kollabierenden Gletschers in Kanada mit den dazugehörigen hysterischen Schreien "You killed my planet" sehen kann. Besonders dieses Objekt bezeichnet auf geradezu lakonische Weise die Bedeutungslosigkeit medialer Aufrufe und die Ironie in der sich leicht veränderten Katastrophenlage: der Klimawandel als Gefriergut.

Besonders erwähnenswert ist da noch eine Originalinstallation des Künstlers Mel Bochner aus dem Jahr 1969, die zwar in den Archiven war, aber niemals wirklich zu sehen war. Speziell für diese Ausstellung hat der Künstler seine eigene Arbeit neu installiert. "Theory of painting" entpuppt sich dabei als sowohl vielschichtige wie eindrucksvolle Entdeckung: ein Raum mit Flächen ausgelegten Zeitungspapiers, auf dem in vier Variationen die Konturen eines großen, jetzt abwesenden Gemäldes zu sehen sind. Diese Arbeit lässt viel Raum für Vorstellung und Idee künstlerischer Produktion und dem Verhältnis zwischen Abwesenheit und Gegenwart eines Kunstwerkes: ein Ort, an dem man lange verweilen kann.

"1969" ist eine Ausstellung nicht nur über die Nostalgie für eine vergangene Zeit oder der Versuch einer Wiederentdeckung, sondern sie ist auch ein durchaus kritischer Kommentar zur Sammlungsgeschichte des MoMA selbst. Und trotz der leicht verstaubten und eher willkürlichen Atmosphäre der Ausstellung gelingt es durch gezielte Intervention, das Augenmerk auf die Relativität von Kunst und Rezeption zu schärfen - eine sehr lohnenswerte und durchaus humorvolle Auseinandersetzung.