Ein Jahr nach der Bundestagswahl

"Merkels Zeit ist vorbei"

Bundeskanzlerin Angela Merkel steht bei der Inbetriebnahme eines neuen Prüf- und Technologiezentrum des Unternehmens auf einer Plattform, im Hintergrund sind Wolken zu sehen.
Merkel habe lange Zeit "einen guten Job" gemacht, findet Heinz Bude. Doch sie sollte zur Hälfte der Legislaturperiode gehen. © Marijan Murat/dpa
Heinz Bude im Gespräch mit Liane von Billerbeck  · 24.09.2018
Die Deutschen warten nach Einschätzung des Soziologen Heinz Bude auf einen "Schritt nach vorne" in der Politik. Dieser müsse sich auch im Personal zeigen: Kanzlerin Merkel sollte nach der Hälfte der Legislaturperiode gehen, sagt Bude.
Deutschland befindet sich nach den Worten des Kasseler Soziologen Heinz Bude in einer "ganz merkwürdigen Situation": Einerseits gehe es dem Land ökonomisch ziemlich gut, andererseits gebe es eine Unsicherheit, was die politische Situation betreffe. "Diesen Widerspruch vermag die Koalition nicht aufzulösen", so Bude.
Der Kasseler Soziologe Heinz Bude trägt einen Schal und blick zugewandt in die Kamera.
Unser Gesprächsgast: der Kasseler Soziologe Heinz Bude .© imago/Christian Thiel
Die Bürgerinnen und Bürger wollten Verlässlichkeit von der Regierung, aber auch die Bereitschaft voranzugehen. Etwa in der Zuwanderungspolitik:
"Man hat nicht den Eindruck, dass die Koalition sich auf eine Plattform geeinigt hat, wo man jetzt denkt, jetzt tun sie etwas, und man weiß, es gibt Schwierigkeiten, auch was die Legitimitätsbeschaffung in der Bevölkerung betrifft, aber sie arbeiten daran. Und das ist ja an der Causa Maaßen jetzt wieder deutlich geworden: als ob die sich auf zwei unterschiedlichen Planeten befinden."

Merkel sollte sich erklären

Die Bevölkerung warte "auf irgendeinen Sprung", ist Bude überzeugt:
"Ich glaube, Angela Merkel hat lange Jahre einen guten Job gemacht. Das kann man auch anders beurteilen, aber ich bin der Meinung, obwohl ich ihr politisch nicht nahe stehe, aber es ist doch klar, dass ihre Zeit vorbei ist. Man wartet auf den Punkt, dass sie sich erklären würde zu sagen, okay, ich habe nochmal die Aufgabe auf mich genommen, nach dem Desaster mit der Situation der Zuwanderung musste sie das vielleicht auch tun, aber jetzt zur Hälfte der Legislaturperiode gehe ich. Das wäre ein Sprung nach vorne, wenn sie das tun würde."
Jetzt sei völlig unklar, wer Merkel folgen würde: "Ich glaube, wir brauchen dieses Grundvertrauen, dass sich das schon richten wird. Das heißt nicht, dass es uns alles egal ist, was passiert. Und das scheint mir so ein Punkt zu sein, wo die Mehrheit der Bevölkerung wartet - nun müssen wir einen Schritt nach vorne tun, und das muss auch im Personal deutlich werden." (bth)

Das Interview im Wortlaut

Liane von Billerbeck: Vor genau einem Jahr war die Bundestagswahl, nach der es dann – Sie erinnern sich – sechs Wochen gedauert hat, bis wir eine Regierung hatten, die ja anfangs auch ganz anders hätte aussehen können und dann doch wieder eine Große Koalition wurde. Wenn man sich deren Zustand ansieht, nun ja, geschenkt. Wir haben uns deshalb mit einem der führenden deutschen Soziologen verabredet, um darüber zu reden, wo wir jetzt stehen, ein Jahr nach dieser Wahl. Und zwar mit Heinz Bude, Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, Autor vieler Bücher, das aktuellste "Adorno für Ruinenkinder – eine Geschichte von 68". Herr Bude, schönen guten Morgen!
Heinz Bude: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Zuerst das, was wir Moderatoren im Radio eine Balkonfrage nennen, an den Makrosoziologen. Wo genau steht Deutschland ein Jahr nach der Wahl?
Bude: Auf einer ganz merkwürdigen Position. Denn einerseits – und das wissen alle – geht es ökonomisch ziemlich gut in Deutschland. Auf der anderen Seite gibt es eine Unsicherheit, was die politische Situation betrifft, in Daten ausgedrückt: Über 80 Prozent der Deutschen sind mit ihrer persönlichen Situation zufrieden bis sehr zufrieden, aber die gleichen sagen zu zwei Dritteln, dass im Ganzen irgendetwas nicht stimmt. Und diese Situation, dieser Widerspruch, den hat die Koalition nicht vermocht, aufzulösen. Und das ist, glaube ich, die Situation, in der wir uns befinden.

Die Bürger wollen Verlässlichkeit und Vorangehen

von Billerbeck: Nun haben wir ja gerade in den vergangenen Tagen ein, sagen wir, unseliges Gerangel erlebt zwischen der Koalition, als es um die Causa Maaßen ging und das Amt, das der Verfassungsschutzpräsident bekommen soll. Und als Berliner könnte ich da den Spruch mal bringen, "die globen, ick zieh mir die Hose mit der Kneifzange an". Aber irgendwie ist es doch wirklich für die Bürger, das kann man ganz auf Hochdeutsch sagen, verheerend, das Bild, was die Koalition da geboten hat.
Bude:Ja, ich glaube, dass Sie recht haben. Es ist etwas ganz, ganz Wichtiges: Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger wollen einerseits Verlässlichkeit von der Regierung. Und ich glaube, es gibt innerhalb, in der gesamten Gesellschaft, einen hohen Bedarf an Verlässlichkeit. Also denken Sie nur an die Bildung, gut, das ist Ländersache, so was wie verlässliche Bildung ist ein ganz großes Thema für viele, viele Eltern in unserem Land. Auf der anderen Seite muss es auch ein gewisses Vorangehen geben. Und diese Mischung aus Verlässlichkeitsgarantie und der Bereitschaft, voranzugehen, etwa in Europa, aber auch auf den ganzen Feldern der Digitalisierung und der neuen Aufgaben und Herausforderungen, die aus der Zukunft auf uns zu kommen – das kriegt die Koalition nicht richtig hin und man hat Gefühl, und ich kann mich dem auch nicht entziehen, dass die das irgendwie nicht richtig auf die Reihe kriegen.
Also, denken Sie an die Zuwanderungspolitik, man hat nicht den Eindruck, dass die Koalition sich auf eine Plattform geeinigt hat, wo man jetzt denkt, jetzt tun sie etwas, und man weiß, es gibt Schwierigkeiten, auch was die Legitimitätsbeschaffung in der Bevölkerung betrifft, aber sie arbeiten daran. Und das ist ja an der Causa Maaßen jetzt wieder deutlich geworden, als ob die auf zwei unterschiedlichen Planeten sich befinden würden.

Völlig unklar, wer Merkel folgen würde

von Billerbeck: Nun erleben wir ja – selbst wenn jeder Bürger, jede Bürgerin erst mal, was das eigene Erleben betrifft, sagt, es geht mir gut, 80 Prozent sagen, es ist alles schön –, erleben wir ja mit der Politik so eine Art dauerhaften Krisenmodus. Führt dieser Krisenmodus zur Ermüdung oder zu noch mehr Ablehnung mit der Politikerkaste?
Bude: Ich glaube schon, dass es so ist, dass die Leute auf irgendeinen Sprung warten. Es ist sicherlich so, und ich sage das mal etwas locker, ich glaube, Angela Merkel hat lange Jahre einen guten Job gemacht. Das kann man auch anders beurteilen, aber ich bin der Meinung, obwohl ich ihr politisch nicht nahestehe. Aber es ist doch klar, dass ihre Zeit vorbei ist. Und man wartet eigentlich auf den Punkt, dass sie sich erklären würde, zu sagen, okay, ich habe noch mal die Aufgabe auf mich genommen, und nach dem Desaster mit der Situation der Zuwanderung musste sie das vielleicht auch tun, aber jetzt, zur Hälfte der Legislaturperiode, gehe ich.
Das wäre ein Sprung nach vorne, wenn sie das tun würde, weil wir dann auch in unserer Vertrauensbereitschaft herausgefordert werden. Es ist nämlich völlig unklar, wer würde denn jetzt Angela Merkel folgen. Und wenn man quasi einen Vertrauensvorsprung hätte gegenüber der Politik, würde man sagen, na irgendjemand wird es schon machen. Bei Angela Merkel war es auch nicht so klar, dass sie eine Politikerin sein würde mit dieser Statur, wie sie sie an den Tag legt. Es wird sich auch ein anderer finden, der mit Putin reden wird. Und es wird sich ein anderer oder andere sich finden, die mit Trump reden wird. Und ich glaube, wir brauchen dieses Grundvertrauen, dass sich das schon richten wird. Das heißt nicht, dass uns alles egal ist, was passiert. Und das scheint mir so ein Punkt zu sein, wo die Mehrheit der Bevölkerung drauf wartet. Nun müssen wir einen Schritt nach vorne tun, und das muss auch im Personal deutlich werden.

Spaltung der Gesellschaft

von Billerbeck: Nun haben Sie gerade eine Diskussionsreihe in der Berliner Schaubühne, diskutieren dort mit wechselnden Gästen unter dem Titel "Streit ums Politische – Demokratie ohne Mehrheit". Welchen Eindruck haben Sie denn von der Qualität der öffentlichen Debatten derzeit?
Bude: Es gibt ein Auseinanderlaufen, denken Sie zum Beispiel an Kevin Kühnert. Der ist ja erfreulich in seiner Formulierungsfähigkeit, da freut man sich, dass ein junger Mann bei den Sozialdemokraten das so kann, auf der anderen Seite, wenn Sie mal genauer hingucken, ist doch eine gewisse konzeptionelle Fantasielosigkeit gleichzeitig vorhanden. Ich habe von ihm noch nie irgendwas gehört, wo ich sagen würde, das ist jetzt ein politischer Gedanke, der nach vorne weist. Und das ist überhaupt so ein bisschen so die Debatte, wir sind eine offenbar im Wirtschaftlichen und auch im Sozialen relativ gut aufgestellte Gesellschaft, die ihren politischen Selbstausdruck im Augenblick nicht findet.
Und dieses Auseinanderlaufen zwischen der Gesellschaft, die ökonomisch, aber auch in der Art und Weise des Zusammenlebens in vielen Teilen Deutschlands funktioniert – wir haben Bundesländer oder Teile von Bundesländern, die seit zehn Jahren Vollbeschäftigung haben. Und gleichzeitig hat man den Eindruck, wenn man dort mit den Leuten redet, die normal arbeiten, die in Unternehmen arbeiten, die zu den Hidden Champions gehören, dass da alles relativ gut läuft, aber sie sagen, ja politisch können wir eigentlich mit der Lage nichts anfangen. Deshalb glaube ich, im Prinzip sieht die Situation gut aus, aber es muss irgendein Schnitt gemacht werden. Um das noch zu sagen: In vielen westlichen Gesellschaften haben wir eine Form der Mehrheitsbeschaffung im Augenblick, die heißt Beschaffung von politischen Mehrheiten durch eine Strategie der Spaltung der Gesellschaft – die Orbán-Strategie. Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass solche Strategien allein um den Bedarf der Mehrheitsbeschaffung nicht auch in Deutschland Fuß fassen.
von Billerbeck: Einschätzungen waren das vom Kasseler Soziologen Heinz Bude, heute, ein Jahr nach der Bundestagswahl. Herr Professor Bude, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Bude: Ich danke Ihnen, Frau von Billerbeck!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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