Der Samaveda - Das Wissen über Melodien und Gesänge
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Im indischen Bundesstaat Gujarat, in der Stadt Dwarka steht der Tempel Shardapit Math. Hier wird uraltes Wissen über religiöse Melodien und Gesänge bewahrt. Die Textsammlung des Samaveda birgt die Wurzeln der klassischen indischen Musik und des Tanzes.
Shardapit Math - gegründet wurde dieser Tempel ungefähr am Anfang des 9. Jahrhunderts. Die Texte des Rig- und Samaveda geben vor allem präzise Anweisungen, wie Opferhandlungen vollzogen werden. Vier Priester sind notwendig, damit das Ritual ordnungsgemäß ablaufen kann. Ein Besuch im Tempel Shardapit Math.
Ein Tempel für die Göttin der Musik
Ganz im Westen des westindischen Bundesstaates Gujarat liegt die Stadt Dwarka, direkt am Arabischen Meer.
Swami Sadanand Sarasvati, der stellvertretende Oberpriester, läutet im Kloster Shardapith Math die Morgenandacht ein. Sharda ist ein anderer Name von Sarasvati, der Göttin der Musik, der Sprache und des Wissens – ihr ist der Ort gewidmet. Denn hier, in einem der vier Klöster, die der Heilige Adi Shankaracharya Anfang des 9. Jahrhunderts gegründet hat, wird das Erbe des Samaveda bewahrt, das Wissen über Melodien und Gesänge.
Göttliche und unangreifbare Texte
Der Veda ist eine umfangreiche Literatursammlung, die auf 1500 bis 500 vor Christus datiert wird. Rund 2000 Jahre galt der Veda als göttlich und unangreifbar. Doch seine langwierigen Rituale und die mächtige Stellung der Brahmanen, der Priesterkaste, gerieten damals zunehmend in die Kritik. Der Buddhismus setzte den vedischen Brahmanismus unter Druck. Der Buddhismus entstand im 5. und 6. Jahrhundert vor Christus zunächst nur als Reformbewegung des Brahmanismus. Doch später dividierten sich die beiden auseinander.
Als Guru Adi Shankaracharya um die Jahrhundertwende vom 8. zum 9. Jahrhundert in allen vier Himmelsrichtungen Indiens Klöster errichtete, wollte er vor allem den "Sanatan Dharma", die sogenannte "ewige Ordnung" des Brahmanismus, gegen die Anfechtungen des Buddhismus verteidigen und stärken.
Opferrituale als Weg zum Ziel
Die Menschen der vedischen Zeit glaubten vor allem an personifizierte Naturerscheinungen, etwa den Himmel oder das Feuer, aber auch ethische Prinzipien, wie Aufrichtigkeit oder Vertragstreue. Diese Götter verehrte man mit Hilfe von Opfer-Ritualen.
Später bildete sich eine Art "Opfermechanik" heraus, erklärt der Indologe Philipp André Maas. Diese besagt: Der Priester muss die Rituale nur präzise durchführen, dann stellt sich das gewünschte Resultat von ganz allein ein. Bei größeren Ritualhandlungen mussten vier Priester anwesend sein. Jeder von ihnen kannte einen Teil des Veda und übernahm eine Aufgabe.
Die Hymnen des Samaveda sind bis auf einige wenige dem Rigveda entnommen. Es ist also nicht der Text, der den Samaveda auszeichnet, sondern dass er gesungen wird. Alle vier Veda-Teile folgen einem bestimmten Sprechrhythmus. Doch Rigveda, Yajurveda, und Atharvaveda werden nur auf einem Ton gesungen, der einzig mit einem benachbarten höheren und tieferen Ton variiert wird.
Der Samaveda hingegen kennt sieben Tonstufen, hinzu kommen Modulationen. Und damit besitzt er ein wesentlich umfangreicheres Melodie-Repertoire als die anderen drei Veden.
Lernen durch Gesten
Zur Zeit des Samaveda sollen auch die ersten Aufzeichnungen der Gesangspraxis entstanden sein. Zusätzlich entwickelten die Praktiker damals ein System aus Hand- und Körpergesten, damit ihre Schüler die Gesänge leichter erlernten. Deshalb wird der Samaveda oft als ein Ursprung des indischen Musiksystems bezeichnet. Experten gehen allerdings davon aus, dass die Melodien des Samaveda aus einer Vielzahl von Quellen stammen, manche von ihnen bereits aus vorvedischer Zeit.
Für die Veden gilt, was oft im Gedankengut von Religionen verankert ist: Sie gelten als göttlich und müssen erhalten werden. Der Direktor des Tempels Shardapith Math ergänzt: Die Töne werden alle von der Lehre vorgegeben. Ohne sie kann die klassische indische Musik gar nicht zum Klingen gebracht werden. Deshalb werden die vedischen Mantren bis heute geschützt und dürfen nicht verändert werden.
2500 Jahre Entwicklung
Die klassische indische Musik entwickelte sich allerdings, weil sie diese religiös-orthodoxe Haltung ablegte und in Notensystem und Praxis Veränderungen in Notensystem und Spielpraxis zuließ. Die klassische indische Musik war in den rund 2500 Jahren, die zwischen dem Samaveda und ihren heutigen Ausprägungen liegen, den vielfältigen musikalischen Einflüsse ausgesetzt und absorbierte sie.
In der buddhistischen Periode von 500 vor Christus bis 300 nach Christus entstand das Natyashastra, eine theoretische Abhandlung, die sich intensiv mit Theater, Tanz und Musik auseinandersetzt. In der klassischen Periode 300 bis 1300 nach Christus entstanden mehrere musiktheoretische Werke. Doch vor allem eine Schrift mit dem Namen Sangita-Ratnakara wurde zu einer Art theoretischer Bibel.
Mit der Vorherrschaft der Muslime in Indien zwischen 1300 und 1700 nahm die indische Musik eine neue Richtung - beeinflusst von persischen Elementen und dem mystischen Sufismus. Ungefähr im selben Zeitraum breitete sich aus Südindien die Bhakti-Bewegung nach Nordindien aus. Und Ende des 14., Anfang des 15. Jahrhunderts kam der Stil der Dhrupad-Musik auf. Dann spaltete sich die nordindische und südindische Musik in hindustanische Musik und karnatische Musik auf.
Auch während der britischen Kolonialzeit zwischen 1700 und 1947 veränderte sich die musikalische Landschaft Indiens weiter. Zahlreiche Schulen entstanden und pflegten verschiedene Stile. Bestimmte Musikinstrumente gewannen an Bedeutung und neue Schriften entstanden.
Dann leitete die Moderne mit ihrer veränderten sozialen Ordnung und Technik Neuerungen ein. Auch die Globalisierung wirkte auf die indische Musik. Außerdem gaben Volksmusik und die Musik der indigenen Bevölkerung Indiens durch die Jahrtausende unzählige Impulse.
Die Hindu-Nationalisten im heutigen Indien versuchen allerdings, den Veda als die einzige Quelle der indischen Kultur zu deuten.
Heilige Schrift wirkt weiter
Der Heilige Adi Shankaracharya hatte Ende des 8., Anfang des 9. Jahrhunderts den Tempel in Dwarka gegründet, damit das Erbe des Samaveda bestehen bleibt. Ob sich der Heilige damals hat vorstellen können, dass die Inhalte der heiligen Schrift noch im Jahr 2020 diskutiert werden würden?
Vermutlich nicht. Eines jedenfalls ist klar: Die Rechnung des Shankaracharya ist aufgegangen. Das Samaveda lebt - und klingt weiter in die Zukunft.