Ein historisches Skandalstück

Rezensiert von Edelgard Abenstein |
Man hält ihn für den Liebesroman schlechthin: Friedrich Schlegels „Lucinde“. Als er 1799 erschien, sorgte er monatelang für einen handfesten Skandal in der Berliner Gesellschaft. Bei aller Freizügigkeit, die man in den Salons pflegte, das war zuviel an Libertinage für die preußische Hauptstadt. Nun ist ein Hörbuch mit Ausschnitten aus dem Roman erschienen.
„Du bist doch allein Lucinde? – Ich weiß nicht...vielleicht ... ich glaube – Bitte, bitte! liebe Lucinde ... "

Liebe bringt Poesie in das eher prosaische Leben. Und die Liebe ist das Geschäft der Frauen, seit jeher, wie man weiß, aber plötzlich – es ist das Zeitalter der Empfindsamkeit – auf ganz neue Weise.

„Denn gewiss ist es, dass Männer von Natur bloß heiß und kalt sind: zur Wärme müssen sie erst gebildet werden. Aber die Frauen sind von Natur sinnlich und geistig warm und haben Sinn für Wärme jeder Art. "

Ein romantisches Programm –

„Nur erst einen recht langen Kuss, und wieder einen, dann noch einige und viele andre mehr. "

Erotik und Geist gehen eine vornehme Verbindung ein, etwas, das uns heute so selbstverständlich scheint – und doch so unerfüllbar ist.

„Ich genoss nicht bloß, sondern ich fühlte und genoss auch den Genuss. "

Lucinde hat einen Brief von Julius bekommen. In einem wilden Taumel bekennt er seinen Gemütszustand. Was, so fragt er, ist die Liebe -
„Es ist Elektrizität des Gefühls. "

Was ist sie anderes als eine unstillbare Sehnsucht?

„Ein feines Feuer strömte durch meine Adern; was ich träumte, war nicht etwa bloß ein Kuss, die Umschließung deiner Arme, es war nicht bloß der Wunsch, den quälenden Stachel der Sehnsucht zu brechen und die süße Glut in Hingebung zu kühlen; nicht nach deinen Lippen allein sehnte ich mich, oder nach deinen Augen, oder nach deinem Leibe: sondern es war eine romantische Verwirrung von allen diesen Dingen, ein wundersames Gemisch von den verschiedensten Erinnerungen und Sehnsüchten. "

Nicht immer war Julius ein solch hingebungsvoller Liebender. Als Dandy war er durchs Leben gegangen, ein wenig gelangweilt von einer Unzahl von Liebschaften, die Schwermut wie eine Kostbarkeit pflegend.

„Er verachtete die Welt und alles, und war stolz darauf. "

Bis sie kam, die einzige, die mit einem Schlag ihn und sein Leben ändern wird:

„Der erste Blick schon entschied, beim zweiten wusste er’s und sagte sich’s, dass es nun gekommen und wirklich da sei, was er so lange dunkel erwartet hatte. Er erstaunte und erschrak... "

Auch Lucinde hat einen entschiedenen Hang zum Romantischen. Auch sie gehört zu denen –

" ... die nicht in der gemeinen Welt leben. "

Lucinde, dieses kleine „Lehrbuch über die Wollust“, war eine Sensation. Hier wurde nicht nur intensiv empfunden, hier wurde kühn der Umsturz in Liebesdingen propagiert, der Rollentausch, Geschlechterspiele, der Reiz der Körper und der Androgynität. Hochmodern ist es bis heute, vor allem in der Schärfe der Gedanken.

„Fühlt man es, so muss man es sagen können, und was man sagen will, darf man auch schreiben können. "

Nina Hoss führt durch den Roman mit kühler Stimme, nachdenklich und scheu, als verfertigte sie die Gedanken beim Reden. Ihr Vortrag klingt, als prüfte sie den Aufruhr der Gefühle auf seine Haltbarkeit. Und es gelingt ihr bei aller Zurückhaltung, den fast fragend mädchenhaften Ton mit leichter Ironie zu würzen. Schön impressionistisch liegen ab und zu elektronische Klangtupfer in der Atmosphäre. Dass sie einen doppelten Text liest, macht sie auf meisterhafte Weise kenntlich: Dichtung und Wahrheit, die reine Fiktion und eine Autobiographie. Denn Lucinde, so märchenhaft der Name klingen mag, gab es tatsächlich.

„Du bist so außerordentlich klug, liebste Lucinde, dass du wahrscheinlich schon längst auf die Vermutung geraten bist, dies alles sei nur ein schöner Traum. "

Sie war die Tochter des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn und mit einem der wohlhabendsten Geschäftsmänner der Stadt verheiratet. Zwei Jahre vor Erscheinen des Romans hatte der 25-jährige Friedrich Schlegel die knapp zehn Jahre ältere Bankiersgattin Dorothea Veit kennen gelernt. Er war ein namenloser junger Mann damals, hübsch und hochbegabt, und sie, eine Dame der Berliner Gesellschaft, die noch nicht einmal besonders gut aussah. Sie bezauberte ihn mit Geist, Bildung, Witz – und sie verließ um seinetwillen Mann und Kinder.

„Lass mich’s bekennen, ich liebe nicht dich allein, ich liebe die Weiblichkeit selbst. Ich liebe sie nicht bloß, ich bete sie an. "

Und erst mal lebten sie ihre Liebe ganz öffentlich in einer wilden Ehe. Fünf Jahre nach dem literarischen Bekenntnis erst legalisierten sie ihr Verhältnis. Julius und Lucinde werden ein ganz normales Paar. Der Rest ist Erinnerung – und Literatur, in der wir, hörend, so manches über uns selbst entdecken.

„Übrigens wollte ich eigentlich davon reden, welchen Eindruck dieser fantastische Roman auf die Frauen machen würde... Verstehen würden mich alle... Viele würden mich besser verstehen als ich selbst, aber nur Eine ganz, und die bist du. "

Lucinde. Nach Friedrich Schlegel
Ein Hörstück mit Nina Hoss
Herzrasen-Verlag 2005
1 CD, 74 Minuten. 14,90 Euro