Ein Herr mit Vorliebe für Henrik Ibsen
Bei seinen Landsleuten in Norwegen gilt der preisgekrönte Autor als die prägende literarische Stimme und Anwärter auf den Nobelpreis. Der in Berlin lebende Dag Solstad wurde erst spät für den deutschen Sprachraum entdeckt. In seinem Roman "Scham und Würde" geht es um einen Studienrat, der sich auf eine schmerzhafte Reise ins Innere seiner Existenz begibt.
Früher wollte er die Gesellschaft verändern, die Menschheit bekehren. Dag Solstad, geboren 1941 im Süden Norwegens, war Mitglied der Arbeidernes Kommunistparti ("Kommunistische Partei der Arbeiter"), einer maoistischen Organisation, die mit Pol Pot und den Roten Khmer sympathisiert haben soll. Als Autor (sein Erzähldebüt gab Solstad 1965) schrieb er politische Literatur.
Aber irgendwann um 1990, in den Zeiten der Wirren und Wenden, scheint ihm der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen abhanden gekommen zu sein. Er könne nicht mehr politisch schreiben, sagt er heute. Das Große, Ganze ist aus seinen Texten verschwunden; nun steht das Individuum im Mittelpunkt, häufig verkörpert in Einzelgängern kurz nach der Midlife-Crisis. Solstad zeichnet Intellektuelle, die die wichtigen Täuschungen und Enttäuschungen hinter sich haben, ganz wie der Autor. Rebellentum? Gibt es nur noch in karikierter Form, in der Erinnerung bequem gewordener Herren an stürmische Jugendzeiten.
Pessimismus, Misanthropie – diese Begriffe fallen bei der Bewertung von Solstads Werken besonders häufig. Es mag ein Missverständnis sein: Was manche Pessimismus nennen, empfinden andere als realitätsnahe Widerspiegelung der Welt.
Solstad hat mehr als zwei Dutzend Bücher veröffentlicht. In Norwegen gilt der preisgekrönte Autor als die prägende literarische Stimme und Anwärter auf den Nobelpreis. Im deutschen Sprachraum ist der in Berlin lebende Autor erst vor wenigen Jahren entdeckt worden, vom kleinen feinen Zürcher Dörlemann-Verlag. Nach "Elfter Roman, achtzehntes Buch" (von 1992) und "Professor Andersens Nacht" erschien nun "Scham und Würde", ein Roman von 1994.
"Im Grunde war er ein dem Alkohol verfallener Studienrat in den Fünfzigern mit einer Frau, die ziemlich zugenommen hatte und mit der er jeden Morgen frühstückte. So auch am heutigen Herbsttag, einem Montag im Oktober..." Der Held des Romans unterrichtet seit einem Vierteljahrhundert Norwegisch am Gymnasium, Elias Rukla aus Oslo, ein älterer, konservativer Herr mit einer Vorliebe für Henrik Ibsen (die er mit seinem Schöpfer teilt). Seine große Zeit als Erzieher liegt hinter ihm; die Schüler sind ihm feindlich gesonnen, sie dulden ihn gerade, respektieren ihn nicht.
An diesem bleigrauen Montag – der Tag bildet den Rahmen der Erzählung – passiert doppelt Ungewöhnliches: Zum einen entdeckt der vor seinen gelangweilten Eleven dozierende Lehrer die wundersam zentrale Bedeutung einer vorgeblichen Nebenfigur in Ibsens Drama "Die Wildente". Und in einer Pause, Rukla will heim, gibt es einen Eklat – lange angestauter Frust bricht sich Bahn. Es regnet, der Herr Studienrat braucht seinen Schirm, der sich nicht öffnen lässt, nicht im Guten und nicht mit Gewalt. Rukla verliert die Contenance, er zerschlägt, zertrampelt den Schirm, und als er den Kreis gaffender Schüler bemerkt, beschimpft er sie auf das Gröbste.
Nach solcher Entgleisung bleibt dem Mann nur die Flucht, hinein in die Stadt und ihre Kneipen. Die Schule, das weiß er, wird er nicht mehr betreten. Sein Dasein liegt in Trümmern. Rukla, ein einsamer Mann, beginnt eine schmerzhafte Reise: ins Innere seiner Existenz und in die Vergangenheit. "Wie schrecklich, aber es gibt keinen Weg zurück."
Solstad schreibt scharf, zynisch; mit mitleidlosem Blick durchdringt er seine Charaktere. Die Präzision der Beobachtungen sorgt für Genuss. Aber manchmal strapaziert der Erzähler die Geduld des Lesers: Wenn er schlichte Aussagen in immer neuen Sätzen mit immer ähnlichen Wörtern so lange wiederholt, bis das Schlichte bizarr wirkt. Der Kunstgriff, vielleicht auch eine stilistische Marotte, mag für den jämmerlichen Zustand des Protagonisten stehen. Wir erleben den Studienrat als Gefangenen – Elias Rukla, ein geistvoller, einst ambitionierter Mensch, gefesselt in den immer gleichen Ritualen und Gedankengängen.
Rezenseniert von Uwe Stolzmann
Dag Solstad: Scham und Würde. Roman.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Dörlemann Verlag, Zürich 2007. 200 Seiten, 19,80 Euro.
Aber irgendwann um 1990, in den Zeiten der Wirren und Wenden, scheint ihm der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen abhanden gekommen zu sein. Er könne nicht mehr politisch schreiben, sagt er heute. Das Große, Ganze ist aus seinen Texten verschwunden; nun steht das Individuum im Mittelpunkt, häufig verkörpert in Einzelgängern kurz nach der Midlife-Crisis. Solstad zeichnet Intellektuelle, die die wichtigen Täuschungen und Enttäuschungen hinter sich haben, ganz wie der Autor. Rebellentum? Gibt es nur noch in karikierter Form, in der Erinnerung bequem gewordener Herren an stürmische Jugendzeiten.
Pessimismus, Misanthropie – diese Begriffe fallen bei der Bewertung von Solstads Werken besonders häufig. Es mag ein Missverständnis sein: Was manche Pessimismus nennen, empfinden andere als realitätsnahe Widerspiegelung der Welt.
Solstad hat mehr als zwei Dutzend Bücher veröffentlicht. In Norwegen gilt der preisgekrönte Autor als die prägende literarische Stimme und Anwärter auf den Nobelpreis. Im deutschen Sprachraum ist der in Berlin lebende Autor erst vor wenigen Jahren entdeckt worden, vom kleinen feinen Zürcher Dörlemann-Verlag. Nach "Elfter Roman, achtzehntes Buch" (von 1992) und "Professor Andersens Nacht" erschien nun "Scham und Würde", ein Roman von 1994.
"Im Grunde war er ein dem Alkohol verfallener Studienrat in den Fünfzigern mit einer Frau, die ziemlich zugenommen hatte und mit der er jeden Morgen frühstückte. So auch am heutigen Herbsttag, einem Montag im Oktober..." Der Held des Romans unterrichtet seit einem Vierteljahrhundert Norwegisch am Gymnasium, Elias Rukla aus Oslo, ein älterer, konservativer Herr mit einer Vorliebe für Henrik Ibsen (die er mit seinem Schöpfer teilt). Seine große Zeit als Erzieher liegt hinter ihm; die Schüler sind ihm feindlich gesonnen, sie dulden ihn gerade, respektieren ihn nicht.
An diesem bleigrauen Montag – der Tag bildet den Rahmen der Erzählung – passiert doppelt Ungewöhnliches: Zum einen entdeckt der vor seinen gelangweilten Eleven dozierende Lehrer die wundersam zentrale Bedeutung einer vorgeblichen Nebenfigur in Ibsens Drama "Die Wildente". Und in einer Pause, Rukla will heim, gibt es einen Eklat – lange angestauter Frust bricht sich Bahn. Es regnet, der Herr Studienrat braucht seinen Schirm, der sich nicht öffnen lässt, nicht im Guten und nicht mit Gewalt. Rukla verliert die Contenance, er zerschlägt, zertrampelt den Schirm, und als er den Kreis gaffender Schüler bemerkt, beschimpft er sie auf das Gröbste.
Nach solcher Entgleisung bleibt dem Mann nur die Flucht, hinein in die Stadt und ihre Kneipen. Die Schule, das weiß er, wird er nicht mehr betreten. Sein Dasein liegt in Trümmern. Rukla, ein einsamer Mann, beginnt eine schmerzhafte Reise: ins Innere seiner Existenz und in die Vergangenheit. "Wie schrecklich, aber es gibt keinen Weg zurück."
Solstad schreibt scharf, zynisch; mit mitleidlosem Blick durchdringt er seine Charaktere. Die Präzision der Beobachtungen sorgt für Genuss. Aber manchmal strapaziert der Erzähler die Geduld des Lesers: Wenn er schlichte Aussagen in immer neuen Sätzen mit immer ähnlichen Wörtern so lange wiederholt, bis das Schlichte bizarr wirkt. Der Kunstgriff, vielleicht auch eine stilistische Marotte, mag für den jämmerlichen Zustand des Protagonisten stehen. Wir erleben den Studienrat als Gefangenen – Elias Rukla, ein geistvoller, einst ambitionierter Mensch, gefesselt in den immer gleichen Ritualen und Gedankengängen.
Rezenseniert von Uwe Stolzmann
Dag Solstad: Scham und Würde. Roman.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Dörlemann Verlag, Zürich 2007. 200 Seiten, 19,80 Euro.