Ein Haus für politisches Theater

Von Stefan Zednik · 01.05.2013
Die Volksbühnenbewegung, Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, war eine Art kultureller Selbsthilfeverein, um Arbeiter ins Theater und politische Stücke auf die Bühne zu bringen. In dieser Tradition stand die Freie Volksbühne, die am 1. Mai 1963 unter der Leitung von Erwin Piscator ihr eigenes Haus in West-Berlin eröffnete.
"Er nahm das Kind an der Hand, es ging ganz brav mit und ließ sich mit dem Gesicht gegen die schwarze Wand stellen. Das Kind sah sich noch einmal um, Boger drehte ihm den Kopf wieder gegen die Wand, hob das Gewehr und erschoss das Kind."

"Die Ermittlung" von Peter Weiss, ein Stück über den Frankfurter Auschwitz-Prozess mit Musik von Luigi Nono, im Herbst 1965 an der "Freien Volksbühne" im Westteil Berlins uraufgeführt, ist der vielleicht bedeutendste Beitrag dieser Bühne zur jüngeren Theatergeschichte. Der "Verein der Freien Volksbühne", eine private Besucherorganisation, hatte zwei Jahre zuvor, am 1. Mai 1963, sein eigenes Haus in der Wilmersdorfer Schaperstraße bezogen. Hier war ein auch heute noch modern wirkender, in die umgebende Parklandschaft sorgsam eingebetteter Theaterbau mit über 1000 Plätzen entstanden. West-Berlin, nach dem Mauerbau vom eigentlichen Zentrum mit seiner Vielzahl von Theatern abgeschnitten, hatte Nachholbedarf.

"Meine Damen und Herren, mit der heutigen feierlichen Einweihung des neuen Hauses der Freien Volksbühne Berlin wird der dritte Theaterneubau seit 1945 seiner Bestimmung übergeben. Erst das Schillertheater, dann die Deutsche Oper Berlin und nun die Freie Volksbühne."

Die "Freie Volksbühne", gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin entstanden, war eigentlich eine Art kultureller Selbsthilfeverein, zunächst ohne eigenes Theatergebäude. Seine wechselvolle Geschichte wurde von Beginn an durch zwei mitunter konkurrierende Interessen bestimmt. Zum Einen ging es darum, den vornehmlich aus proletarischen Schichten stammenden Mitgliedern den Zugang zum Theater, den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Dies sollten ein einheitlich niedriger Eintrittspreis und eine Verlosung der Plätze gewährleisten. Zum Zweiten sollten neue, gesellschaftlich relevante Stücke geboten werden. Karl Kautsky, ein früher Theoretiker der Sozialdemokratie:

"Die Aufgabe der Freien Volksbühne geht dahin, Dramen, die ihrer Tendenz wegen bisher nicht zur Aufführung gelangen konnten, die dem Proletariat vorenthalten wurden, diesem in der Darstellung zugänglich zu machen. Darin liegt die Bedeutung der Freien Volksbühne. Wenn sie dieser Aufgabe untreu würde, wenn ihr einziger Unterschied von den anderen Bühnen in der Höhe des Eintrittspreises läge, dann würde sie jede kulturhistorische Bedeutung verlieren."

Nach dem Bau eines ersten eigenen Hauses 1914, den Turbulenzen der zwanziger und der Gleichschaltung der dreißiger Jahre kam es nach 1945 zu Neugründungen der Volksbühnenvereine. Der beginnende Kalte Krieg warf seine Schatten voraus. Während der Ostberliner Teil sich in den FDGB eingliederte, bestand man im Westen auf Eigenständigkeit. Der Pionier des politischen Theaters, Erwin Piscator, zum Zeitpunkt der Eröffnung der neuen Spielstätte im Jahr 1963 Intendant und künstlerischer Leiter der "Freien Volksbühne":

"Heute aber, da mehr denn je die Politik in unser Leben hineinwirkt, da das Weiterbestehen der gesamten Menschheit von politischen Konstellationen abhängt, heute, da die Politik annähernd zur einzigen Lebensfrage oder Todesfrage geworden ist – können wir sie etwa aus dem Theater verbannen? Oder sollen wir sie nicht ganz besonders betonen?"

In den siebziger Jahren nimmt das Haus unter dem Intendanten Kurt Hübner einen künstlerischen Aufschwung, Regisseuren wie Rudolf Noelte, Claus Peymann, Peter Zadek oder Hans Neuenfels gelingen herausragende Aufführungen. Und doch gerät die Idee des Arbeiterbildungstheaters mehr und mehr zum Anachronismus. Als ab 1986 das Haus in wirtschaftlich turbulentes Fahrwasser gerät, ist sein Untergang kaum mehr aufzuhalten. So ist für den Kultursenator Ulrich Roloff-Momin im Jahr 1990 die "Freie Volksbühne" …

"ein Sorgenkind des Berliner Theaters schon seit Langem. Hier beabsichtige ich, tiefgreifende Änderungen einzuführen. Das Ensemble wird nach dem Auslaufen der derzeitigen Verträge nicht verlängert."

Die "Freie Volksbühne" verliert ihre staatlichen Subventionen und kann das Haus aus eigener Kraft nicht weiter betreiben. 1993 wird der selbstständige Spielbetrieb im Theater an der Schaperstraße, das heute vor allem als Festivalspielstätte genutzt wird, eingestellt.
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