Ein Hauptwerk der deutschen Emigration

Hans Sahl wurde 1902 als Sohn eines jüdischen Industriellen in Dresden geboren; am Berliner Savignyplatz ist er zur Schule gegangen. Er gehört zu einem Jahrgang, der wie kein anderer in den Mahlstrom der Geschichte geriet.
Erster Weltkrieg mit zwölf, dann politische Unruhen, Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Antisemitismus, Hitler – Katastrophe in Permanenz. Sahls kurze Karriere als Kritiker im aufgekratzten Kulturleben der taumelnden Weimarer Republik war bald wieder zu Ende. Er flüchtete 1933 aus Deutschland, lebte in Paris und Südfrankreich, schaffte es dann knapp in die amerikanische Emigration, schlug sich durch in New York.

"Die Wenigen und die Vielen", 1959 erschienen, ist Sahls einziger Roman, ein Buch am Leitfaden seiner von der Politik gehetzten Lebensgeschichte. "Ich bin aufgewachsen in einem Land, das von Hunger und Bürgerkrieg heimgesucht war und in dem finstere Gedanken die Gehirne verwüsteten." Der Roman gehört zum Besten, was deutsche Schriftsteller über den revolutionären Umbruch des Jahres 1933 geschrieben haben.

Die Rahmenhandlung spielt in New York. Der emigrierte Autor Georg Kobbe, Verfasser von Gedichten, die keiner mehr liest, lebt in einem winzigen Hotelzimmer, durchstreift die Straßenschluchten und sucht andere Gestrandete auf, wie seine Schwester Katharina oder seine Freundin, die Ausdruckstänzerin Luise. Unterdessen rumort in seinem Kopf die verlorene Zeit. In vielen Rückblenden wird das Lebensgefühl im Berlin der späten Weimarer Republik, werden die atmosphärischen Vorzeichen der "Machtergreifung", die Schikanen der Verhöre, die Schrecken der Verfolgung und die Irrfahrten der Emigration vergegenwärtigt.

Sahls Interesse ist nicht die politische Analyse. Er befasst sich kaum mit dem sozialen Elend, dem materiellen Niedergang des Bürgertums, dem verbreiteten Gefühl der nationalen Kränkung und anderen Gründen für den Aufstieg Hitlers; er begreift das Jahr 1933 als Kulturrevolution. Was verändert sich plötzlich im Umgangston der Menschen, im Auftreten von Redakteuren und Amtspersonen, welcher neue Ton dringt in die Gespräche? "Dies hier ist mein Land, und ich will wissen, woher dieser Wandel der Gesichter kommt, diese Fremdheit, die wie Nebel aus dem Grund der Städte aufsteigt ..."

Sahl ist ein begnadeter Feuilletonist: In einem beinahe altmeisterlichen, von feiner Melancholie geprägten Stil schildert er Menschen, Szenen, Vorfälle mit sicherer Pointierung; jedes Detail wird zum Fazit der Epoche. Es beeindrucken die vielen Porträts von geschlagenen, desillusionierten, entwurzelten Menschen – die Galerie reicht von Kobbes Eltern bis zu prominenten Künstlern und Literaten wie dem sich zu Tode trinkenden Joseph Roth.

Die Handlung ist zweitrangig bei diesem Roman, der eher ein fiktional eingekleidetes Erinnerungsbuch ist, ein Werk faszinierender Zeitzeugenschaft. "Die Wenigen und die Vielen" ist ein Buch, das den Geschmack einer Epoche spüren lässt, ein wiederzuentdeckendes Hauptwerk der deutschen Emigration.


Besprochen von Wolfgang Schneider

Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2010, 366 S., 22,95 Euro