Ein Grundrecht auf Familie
In seinem aktuellen Buch untersucht der emeritierte Rechtsprofessor Ingo Richter, ob die deutsche Verfassung den Bedürfnissen von Familien gerecht wird. Sein Fazit: An manchen Stellen gibt es Nachbesserungsbedarf.
Die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes ist unbestritten. Ursprünglich ein Provisorium, hat sich das Grundgesetz zu einer voll funktionsfähigen Verfassung entwickelt. Wichtige Bereiche des menschlichen Lebens – Familie, Kultur und Bildung – werden vom Verfassungsrecht geprägt. Die Familie steht nach Artikel 6 Abs. 1 des Grundgesetzes unter staatlichem Schutz.
Wenn aber noch im Jahr 2000, im fünften Familienbericht der Bundesregierung, von einer "strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber den Familien" die Rede ist, dann liegt offensichtlich eine jahrelange systematische Vernachlässigung dieser Verpflichtung vor, schreibt Ingo Richter. Eine Konsequenz ist, dass sich nicht viele Menschen dafür entscheiden, Kinder zu haben. Für Ingo Richter stellt sich dabei die Frage nach der Balance beim Zusammenspiel von individueller Freiheit und staatlicher Unterstützung.
Die Menschen haben die grundrechtlich geschützte Wahlfreiheit, Kinder zu bekommen – oder eben nicht. Der Staat muss dafür sorgen, dass sie sich auch wirklich entscheiden können. Im sogenannten Abtreibungsurteil spricht das Bundesverfassungsgericht davon, dass der Staat gehalten ist, eine "kinderfreundliche Gesellschaft" zu fördern. Er darf aber nicht übertreiben und zunehmend steuernd eingreifen.
Indem er aus Aldous Huxleys Buch "Schöne neue Welt" zitiert – wo die Menschen sortiert nach Erfolgstyp Alpha bis zum Typ Epsilon, dem niederen Arbeiter, in Reagenzgläsern gezüchtet werden – macht Ingo Richter klar, was passieren würde, wenn Kinder nicht mehr als "Inbegriff des Privaten" gälten, sondern als ein "öffentliches Gut", über dessen "Produktion" und "Distribution" (Herstellung und Verteilung) der Staat das Sagen hätte.
Der größte Teil des Buches befasst sich mit dem Thema Familie – und dem Dauerthema Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade hier in den vergangenen Jahrzehnten eine enorme Entwicklung mitgemacht. 1957 schrieb es noch: "Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin." Aber bereits 20 Jahre später erkannte das Gericht, dass die sozial-biologistischen Zuschreibungen nicht richtig sind. Es schrieb: "Es gehört nicht zu den geschlechtsbedingten Eigenheiten von Frauen, Hausarbeit zu verrichten."
Ingo Richter geht es immer wieder um das schwierige Verhältnis zwischen individuellen Rechten und öffentlichen Eingriffen. Das Elternrecht aus Grundgesetz-Artikel 6, Absatz 2, sagt: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über die Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." Und damit der Staat sein Wächteramt nicht überstrapaziert, ist ebenso eindeutig und klar geregelt, dass Kinder gegen den Willen der Erziehungsberechtigten "nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden" dürfen, und auch nur dann, "wenn die Eltern versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen".
Aber das Kind selbst hat kein eigenes Recht auf Betreuung, Erziehung und Bildung. Hier fordert Richter eine Grundgesetzänderung. Auch bei der Umsetzung des Rechts auf Bildung stellt er gravierende Mängel fest.
Die Themen dieses Buches, das zum Teil auch aktualisierte frühere Veröffentlichungen enthält, sind kompliziert, die Zusammenhänge werden aber in einer klaren Sprache dargestellt. Auf die Frage des Buchtitels, ob das Grundgesetz "eine gute Verfassung für Familie, Kultur und Bildung" ist, hat er kein "Ja" und kein "Nein" parat: Auf komplizierte Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten.
Besprochen von Annette Wilmes
Ingo Richter: Das Grundgesetz - Eine gute Verfassung für Familie, Kultur und Bildung?
Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2009
344 Seiten, 25 Euro
Wenn aber noch im Jahr 2000, im fünften Familienbericht der Bundesregierung, von einer "strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber den Familien" die Rede ist, dann liegt offensichtlich eine jahrelange systematische Vernachlässigung dieser Verpflichtung vor, schreibt Ingo Richter. Eine Konsequenz ist, dass sich nicht viele Menschen dafür entscheiden, Kinder zu haben. Für Ingo Richter stellt sich dabei die Frage nach der Balance beim Zusammenspiel von individueller Freiheit und staatlicher Unterstützung.
Die Menschen haben die grundrechtlich geschützte Wahlfreiheit, Kinder zu bekommen – oder eben nicht. Der Staat muss dafür sorgen, dass sie sich auch wirklich entscheiden können. Im sogenannten Abtreibungsurteil spricht das Bundesverfassungsgericht davon, dass der Staat gehalten ist, eine "kinderfreundliche Gesellschaft" zu fördern. Er darf aber nicht übertreiben und zunehmend steuernd eingreifen.
Indem er aus Aldous Huxleys Buch "Schöne neue Welt" zitiert – wo die Menschen sortiert nach Erfolgstyp Alpha bis zum Typ Epsilon, dem niederen Arbeiter, in Reagenzgläsern gezüchtet werden – macht Ingo Richter klar, was passieren würde, wenn Kinder nicht mehr als "Inbegriff des Privaten" gälten, sondern als ein "öffentliches Gut", über dessen "Produktion" und "Distribution" (Herstellung und Verteilung) der Staat das Sagen hätte.
Der größte Teil des Buches befasst sich mit dem Thema Familie – und dem Dauerthema Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade hier in den vergangenen Jahrzehnten eine enorme Entwicklung mitgemacht. 1957 schrieb es noch: "Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin." Aber bereits 20 Jahre später erkannte das Gericht, dass die sozial-biologistischen Zuschreibungen nicht richtig sind. Es schrieb: "Es gehört nicht zu den geschlechtsbedingten Eigenheiten von Frauen, Hausarbeit zu verrichten."
Ingo Richter geht es immer wieder um das schwierige Verhältnis zwischen individuellen Rechten und öffentlichen Eingriffen. Das Elternrecht aus Grundgesetz-Artikel 6, Absatz 2, sagt: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über die Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." Und damit der Staat sein Wächteramt nicht überstrapaziert, ist ebenso eindeutig und klar geregelt, dass Kinder gegen den Willen der Erziehungsberechtigten "nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden" dürfen, und auch nur dann, "wenn die Eltern versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen".
Aber das Kind selbst hat kein eigenes Recht auf Betreuung, Erziehung und Bildung. Hier fordert Richter eine Grundgesetzänderung. Auch bei der Umsetzung des Rechts auf Bildung stellt er gravierende Mängel fest.
Die Themen dieses Buches, das zum Teil auch aktualisierte frühere Veröffentlichungen enthält, sind kompliziert, die Zusammenhänge werden aber in einer klaren Sprache dargestellt. Auf die Frage des Buchtitels, ob das Grundgesetz "eine gute Verfassung für Familie, Kultur und Bildung" ist, hat er kein "Ja" und kein "Nein" parat: Auf komplizierte Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten.
Besprochen von Annette Wilmes
Ingo Richter: Das Grundgesetz - Eine gute Verfassung für Familie, Kultur und Bildung?
Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2009
344 Seiten, 25 Euro