Ein großer Wurf

Von Ulrich Fischer · 19.06.2008
"Jagdszenen" sind Tanztheater aus einem Guss: Eva-Maria Lerchenberg-Thöny ordnet alles ihrem Libretto unter. Ihre Choreographie, die Musik, ihre Compagnie und das komplexe Bühnenbild. Im Mittelpunkt stehen ein "junger Mann", vielleicht aus Braunschweig, und ein "Fremder".
"Der junge Mann" sucht seinen Platz in der Familie, der Vater drängt ihn vom Sofa vor der Glotze. Der namenlose junge Mann sucht Zuflucht vor dem Computer; der Vater hört die Schüsse der Spiele und züchtigt seinen Sohn. Der weicht abermals aus, auf die Straße. Da trifft er den Fremden, der ihn anzieht – mehr aber noch die Gruppe. Gleichaltrige, sie tragen Kampfhosen wie bei der Bundeswehr. Gern würde Hans mittanzen – aber wieder wird er ausgegrenzt – wie zu Haus. Erst als er seinen fremden Freund fertigmacht, hat er die Aufnahmeprüfung bestanden. Hans ist froh – jetzt weiß er, wo er hingehört.

Lerchenberg-Thönys Geschichte ist einfach, nie simpel, weil sie der naturalistischen eine realistische Ebene unterlegt – Ausgrenzung muss nicht nur auf dem Sofa in der Familie geschehen – der Zuschauer wird für intelligent genug gehalten, hier eine exemplarische Szene zu sehen. Ausgrenzen kann man ganz prima, wenn man Ausbildungsplätze verweigert – oder Schulabschlüsse, Versetzungen. Am besten gibt man dem "jungen Mann" noch selbst die Schuld, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt. - Die Choreographin vertieft das Thema, ohne es unnötig zu komplizieren, indem sie retardierende Momente einfügt. Die Mutter setzt sich für den "jungen Mann" ein - der starke Vater verteidigt seine Autorität mit der Faust. Oder eine Tänzerin wendet sich dem "Fremden" zu um ihn zu schützen – erst wird sie von den braven Bürgern ausgegrenzt, ein Fremder gehört schließlich nicht dazu, dann wird sie der rohen Gewalt preisgegeben.

Die Stärke des Rechts unterliegt dem Recht der Stärkeren. Immer. Das ist die Provokation dieses Abends. Aber wäre es nicht angemessener, so etwas dem Schauspiel zu überlassen, dem differenzierenden Wort?

Die Antwort liegt im Auftritt der Compagnie, wenn sie die Gruppe der "Angreifer" tanzt. Das hat eine Dynamik, die an Strawinskys "Sacre de printemps" ("Frühlingsopfer") erinnert, aber dann auch wieder am Kampfszenen der Pekingoper. Lerchenberg-Thöny hat für ihren politischen Tanztheaterabend Harald Weiss gewonnen, der eigens die Musik komponierte – eine Collage, die sich geschmeidig den Bedürfnissen der Erzählung anpasst – und den Figuren. Melancholische Klänge aus Arabien für den Fremden, exotisch, anziehend; boshaft-satirische Doitsche VOLKSmusik, verfremdet zu Erinnerungen an die gute alte Zeit, als Braunschweig noch BRAUNschweig war, Schlager aus der Glotze, der wir unsere politische Erziehung der Menge anvertrauen; vor allem aber mitreißende Rhythmen für die Gruppe – ein Rhythmus, bei dem einfach jeder mitmuss. Eine kluge Collage, kenntnisreich, ganz in den Dienst des Abends gestellt. Manche meinen, politische Kunst, das sei ein Widerspruch in sich. Die Klangcollage beweist wie der ganze Abend: Kunst und Politik können sich wechselseitig inspirieren – auf hohem Niveau.

Susanne Thaler hat die Bühne freigeräumt, damit Platz ist für die Tänzer, ein Sofa muss reichen, Dokumentaraufnahmen, auf den Hintergrund projiziert, fundieren das Geschehen in der Realität. Lerchenberg-Thöny geht von einem authentischen Fall aus: in Guben.

Ferdinand Holeva (Der Fremde) und Roman Katkov (Der junge Mann) meistern ihre kräftezehrenden Partien imponierend, aber der Held ist das Ensemble. Gerade bei den Auftritten der Fremdenfeinde zeigen sie sich tänzerisch ebenso auf der Höhe wie schauspielerisch: vor allem Kira Wortmann, das Mädchen hinten links, die Blonde, zeigt mit ihrer Mimik überzeugend die Lust am Sieg, das Triumphale, das Glück, einmal nicht zu den Verlierern, den ewig Gedemütigten zu gehören, sondern endlich selbst demütigen zu dürfen.

In dieser Individualisierung liegt die Lösung. Jeder Einzelne braucht Zuwendung, braucht Raum, sich zu entwickeln.

Platz auf dem Sofa!

Nirgends gibt es ein so überzeugendes politisches Tanztheaterstück in Deutschland. Eva-Maria Lerchenberg-Thöny verweist nicht nur das benachbarte Ballett in der Landeshauptstadt Hannover auf den Platz, sondern hat sich, nach ihrer klugen "Carmen", nun endgültig für große Häuser qualifiziert.

Jagdszenen
Von Eva-Maria Lerchenberg-Thöny
www.staatstheater-braunschweig.de