Ein großer Wurf
Schon ihr Debütroman „Aus dem Sinn“ wurde hochgelobt, mit ihrem neuen Werk „Das Blau vom Himmel über dem Atlantik“ erweist sich Emma Braslavsky als eine der stärksten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Gleich mit acht Erzählern wartet die Autorin auf, die die mysteriöse Geschichte ihrer Großmutter zum Besten geben.
Man sagt, Schriftsteller hätten nach einem erfolgreichen Debüt besondere Schwierigkeiten mit dem zweiten Buch. Nicht so Emma Braslavsky, Jahrgang 1971, deren Erstlingsroman „Aus dem Sinn“, lobend rezensiert und preisgekrönt, eine Art postmodern aufgelöste Landsmannschaftsgeschichte darstellte.
Die Kindergeneration der Vertriebenen der alten Ostgebiete findet ihre „Identität“ in der DDR im Jahr 1969 in einer Art subversivem Hippietum. Vielleicht war Emma Braslavskys erster Roman die sympathischste Verlautbarung aus der Vertriebenenszene seit Gründung der Bundesrepublik. Mit ihrem zweiten Roman „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik“ aber ist Braslavsky ein großer Wurf gelungen. Braslavsky kann man nun ohne Skrupel als eine der stärksten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnen.
Allein schon die leichthändig umgesetzte technische Struktur ihres neuen Romans ist überwältigend. Nicht weniger als acht Erzähler berichten in jeweils individueller Sprache von der Beerdigung der Mutter und der Trauerfeier ihrer acht Kinder im Jahr 1982 im thüringischen Lauterbach. Diese ausgefeilte stilistische Polyphonie trägt ohne alle Ermüdungserscheinungen über die 390 Seiten des Buches.
Die Beerdigung gerät zur ebenso anrührenden wie skurrilen Prozedur. Der Wellensittich der Verstorbenen pickt im Gesicht der Toten herum, sodass der jüdische Bestatter noch einmal seine Künste bemühen muss, um den aufgebahrten Leichnam wieder in Form zu bringen. Das Groteske bei Emma Braslavsky ist immer austariert, dreht nie vollständig durch, hält immer das Gleichgewicht.
Im Zentrum der Gedanken der acht Kinder steht neben der Lebensgeschichte der Mutter, 1945 aus dem schlesischen Lauterbach ins thüringische Lauterbach vertrieben, die mysteriöse, früh emanzipierte Großmutter Esther. Das Familientrauma, die Vergewaltigung der Großmutter durch ihren alkoholisierten Mann vor den Augen der Kinder und dessen anschließender, ungeklärter Tod stehen im Mittelpunkt der Reflexion. Nicht nur drei Versionen – wie in Akira Kurosawas Film „Rashomon“ –, sondern acht Versionen des Vorfalls ergänzen sich zum Horrorszenario.
Braslavsky ist eine verschmitzte Autorin, die einen leichten Erzählton schafft, obwohl in ihrer Erzählung sich Tod und Unglück die Klinke in die Hand geben. Sie liebt die Rückspiegelung der großen Koinzidenzen auf die „kleine“ Geschichte: Die Mutter der Familie stirbt ausgerechnet, als auch der kalte Krieger Breschenew das Zeitliche segnet. Dazu kommen die zaghaften Karnevalsambitionen der Thüringer im November des Jahres 1982.
Der Roman ist ausgesprochen spannend: Es gibt ein mysteriöses Schriftstück, das die Mutter über eine übersinnliche Erscheinung verfasst hat und dem die Kinder auf der Spur sind.
Der Literaturfreund merke sich den Namen Emma Braslavsky! Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, wird er noch eine nicht geringe Rolle in der deutschen Gegenwartsliteratur spielen.
Rezensiert von Marius Meller
Emma Braslavsky: Das Blau vom Himmel über dem Atlantik
Claasen Verlag, Berlin 2008
391 Seiten, 19, 90 Euro
Die Kindergeneration der Vertriebenen der alten Ostgebiete findet ihre „Identität“ in der DDR im Jahr 1969 in einer Art subversivem Hippietum. Vielleicht war Emma Braslavskys erster Roman die sympathischste Verlautbarung aus der Vertriebenenszene seit Gründung der Bundesrepublik. Mit ihrem zweiten Roman „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik“ aber ist Braslavsky ein großer Wurf gelungen. Braslavsky kann man nun ohne Skrupel als eine der stärksten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnen.
Allein schon die leichthändig umgesetzte technische Struktur ihres neuen Romans ist überwältigend. Nicht weniger als acht Erzähler berichten in jeweils individueller Sprache von der Beerdigung der Mutter und der Trauerfeier ihrer acht Kinder im Jahr 1982 im thüringischen Lauterbach. Diese ausgefeilte stilistische Polyphonie trägt ohne alle Ermüdungserscheinungen über die 390 Seiten des Buches.
Die Beerdigung gerät zur ebenso anrührenden wie skurrilen Prozedur. Der Wellensittich der Verstorbenen pickt im Gesicht der Toten herum, sodass der jüdische Bestatter noch einmal seine Künste bemühen muss, um den aufgebahrten Leichnam wieder in Form zu bringen. Das Groteske bei Emma Braslavsky ist immer austariert, dreht nie vollständig durch, hält immer das Gleichgewicht.
Im Zentrum der Gedanken der acht Kinder steht neben der Lebensgeschichte der Mutter, 1945 aus dem schlesischen Lauterbach ins thüringische Lauterbach vertrieben, die mysteriöse, früh emanzipierte Großmutter Esther. Das Familientrauma, die Vergewaltigung der Großmutter durch ihren alkoholisierten Mann vor den Augen der Kinder und dessen anschließender, ungeklärter Tod stehen im Mittelpunkt der Reflexion. Nicht nur drei Versionen – wie in Akira Kurosawas Film „Rashomon“ –, sondern acht Versionen des Vorfalls ergänzen sich zum Horrorszenario.
Braslavsky ist eine verschmitzte Autorin, die einen leichten Erzählton schafft, obwohl in ihrer Erzählung sich Tod und Unglück die Klinke in die Hand geben. Sie liebt die Rückspiegelung der großen Koinzidenzen auf die „kleine“ Geschichte: Die Mutter der Familie stirbt ausgerechnet, als auch der kalte Krieger Breschenew das Zeitliche segnet. Dazu kommen die zaghaften Karnevalsambitionen der Thüringer im November des Jahres 1982.
Der Roman ist ausgesprochen spannend: Es gibt ein mysteriöses Schriftstück, das die Mutter über eine übersinnliche Erscheinung verfasst hat und dem die Kinder auf der Spur sind.
Der Literaturfreund merke sich den Namen Emma Braslavsky! Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, wird er noch eine nicht geringe Rolle in der deutschen Gegenwartsliteratur spielen.
Rezensiert von Marius Meller
Emma Braslavsky: Das Blau vom Himmel über dem Atlantik
Claasen Verlag, Berlin 2008
391 Seiten, 19, 90 Euro