Ein großer Dichter

Von Barbara Dobrick · 12.12.2009
Peter Rühmkorf starb im Sommer 2008. Am 25. Oktober 2009 wäre er 80 Jahre alt geworden. Anlass an den großen Dichter zu denken, der zutiefst geprägt war von der protestantischen Welt, in der er aufwuchs.
"Das protestantische Kirchenlied, das habe ich mit Löffeln, wenn nicht Kellen gefressen, sodass ich auch vor allen Dingen die wunderbaren Sachen von Paul Gerhardt, dass ich mit denen sehr früh vertraut wurde, und dass diese frühen Strophen überhaupt nicht aus meinem Gedächtnis zu tilgen sind. ‚Befiel du deine Wege und was dein Herze kränkt. Der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, wo dein Fuß gehen kann.’ Also: ‚Bleib erschütterbar und widersteh!’ Irgendwie kommt das dann doch wieder raus."


Bleib erschütterbar und widersteh
"Also heut: zum Ersten, Zweiten, Letzten:
Allen Durchgedrehten, Umgehetzten,
was ich, kaum erhoben, wanken seh,
gestern an und morgen abgeschaltet:
Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet:
Bleib erschütterbar – doch widersteh!

Die uns Erde, Wasser, Luft versauen
– Fortschritt marsch! Mit Gas und Gottvertrauen –
Ehe sie dich eingemeinden, eh
du im Strudel bist und schon im Solde,
wartend, dass die Kotze sich vergolde:
Bleib erschütterbar – doch widersteh!

Schön, wie sich die Sterblichen berühren –
Knüppel zielen schon auf Hirn und Nieren,
dass der Liebe gleich der Mut vergeh . . .
Wer geduckt steht, will auch andre biegen.
(Sorgen brauchst du dir nicht selber zuzufügen;
alles, was befürchtet wird, wird wahr!)
Bleib erschütterbar.
Bleib erschütterbar – doch widersteh!

Widersteht! Im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla hier und dort Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee . . .
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
Aber du mit – such sie dir! – Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr,
leicht und jäh – – –
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar – doch widersteh!"
Mit den Jazzmusikern Michael Naura und Wolfgang Schlüter trat Rühmkorf häufig zusammen auf. Zwischen Choral und Jazz, zwischen Tradition und Moderne – die gleichzeitig respektvolle und ironische Auseinandersetzung mit Vorgängern, zeigt sich besonders gut in Rühmkorfs Parodien und Variationen auf Gedichte großer Vorbilder.

"In einem edleren Sinne parodieren kann ich nur, was mir lieb und teuer ist. Und die witzigen Brechungstöne kommen dann doch heraus, und ich schmuggle sie ja mit hinein, weil ich natürlich ganz und gar mit den Vorbildern nicht mehr zur Deckung komme. Hier ist ein neuerer, ein modernerer Mensch, und da ist eine alte Literaturvorlage, die ich sehr liebe, und ich versuche mich mit ihr mich annährend und Distanz nehmend, auf beide Arten und Weisen, in Beziehung zu setzen. Ich lese Ihnen vielleicht mal ‚Die Variation auf das Abendlied von Matthias Claudius’ vor.

Der Mond ist aufgegangen.
Ich, zwischen Hoff- und Hangen
rühr an den Himmel nicht.
Was Jagen oder Yoga?
Ich zieh die Tintentoga
des Abends vor mein Angesicht.

Die Sterne rücken dichter, nachtschaffenes Gelichter.
wie’s um die Wette äfft –
So will ich sing- und gleißen
und Narr vor allen heißen,
eh mir der Herr die Zunge refft.

Laßt mir den Mond dort stehen.
Was lüstet es Antäen
und regt das Flügelklein?
Ich habe gute Weile,
der Platz auf meinem Seile
wird immer uneinnehmbar sein.

Herr, laß mich dein Reich scheuen!
Wer salzt mir dort den Maien?
Wer sämt die Freuden an?
Wer rückt mein Luderbette
an vorgewärmte Stätte,
da ich in Frieden scheitern kann?

Oh Himmel, unberufen,
wenn Mond auf goldenem Hufe
über die Erde springt –
Was Hunde hochgegtrieben?
So legt euch denn, ihr Lieben
und schürt, was euch ein Feuer dünkt.

Wollt endlich, sonder Sträuben,
still linkskant liegen bleiben
wo euch kein Scherz mehr trifft.
Müde des oft Gesehenen,
gönnt euch ein reines Gähnen
und nehmt getrost vom Abendgift."

Peter Rühmkorf, der auf eigenwillige und einzigartige Weise literarische Traditionen aufnahm und erweiterte, war ein überaus gebildeter Dichter. Der radikale Ich-Sager hatte schon früh auch die Werke Sigmund Freuds gelesen.

"Alles wurzelt im Grunde in der Biografie oder es wurzelt überhaupt nicht. Und auch die Literatur muss irgendwo unten ihre feinsten, feinen und verzweigtesten Wurzeln haben. Und auf dieser archaischen Basis baut sich dann alles auf.""

Rühmkorfs Kindheit und Jugend waren geprägt von seiner unehelichen Geburt – damals, in den 1920er- und 30er-Jahren, ein soziales Drama.

"Meine Mutter war Lehrerin in einem niedersächsischen Dorf, Warstade-Hemmoor, und verliebte sich in einen durchreisenden Puppenspieler, bis sie eines Tages ein Kind erwartete. Und als sie ihm das erzählte, hat er Abschied genommen, denn es stellte sich da erst heraus, er war bereits verheiratet.

Und das war natürlich für meine Mutter, die unter anderem Religionslehrerin war und auch in sehr frommen Verhältnissen aufgewachsen war, weil mein Großvater war Superintendent in Otterndorf, und es war eine sehr honorige Familie, der sie entstammte. Und sie konnte nicht ein uneheliches Kind in ihrem eigenen Dorf, wo sie unterrichtete, zur Welt bringen. Und da hat meine Mutter sich Urlaub genommen und hat in Dortmund Unterkunft und Arbeit in einem Krankenhaus, eigentlich in einer Gebärklinik gefunden.

Und da hat sie mich dann auch geboren. Meine Mutter war nicht doof. Dann hat sie gedacht, dass Kind muss, wenn sie schon keinen Vater hat, muss es wenigstens einen ordentlichen Paten haben. Und sie neigte so der modernen Theologie zu, und eine große, besondere Kapazität auf dem Gebiet war damals Karl Barth, der große Reformtor der Reformation. Der lehrte an der Universität Münster, und sie bat Karl Barth doch die Patenschaft über dieses Unglücksbündel zu übernehmen.

Und Karl Barth war ein großzügiger Kerl und der tat das dann auch. Und dann war meine Mutter schon, hatte schon die Gewissheit, dass sie ihrem Pastoren- und Superintendentenvater wenigstens einen wohlgeratenen, hoch gewachsenen, ja weltberühmten Patenonkel vorführen konnte. Nun wird’s aber erst richtig brenzlig. Ich bin zwei Jahre lang in Dortmund bei Pflegeeltern aufgewachsen. Meine Mutter hat dann weiter unterrichtet, mich da auch immer wieder besucht und so, aber eines Tages wollte sie mich natürlich dann gern zu sich nach Hause holen und hat mir so Persilscheine. Ich bin praktisch adoptiert worden von ihr, und dann kam sie eines Tages mit einem Adoptivkind an.

Meine Mutter dachte, das würde keiner merken. Das ganze Dorf wusste es. Ich wurde Kasper genannt. Ich wurde gehänselt. Ich wurde immer gefragt: Wo hast du denn deinen Papa gelassen. Meine Mutter glaubte dies Geheimnis verborgen. Das war eine ungeheuerliche Selbsttäuschung, und ich war selbst eigentlich gezwungen, weil ich immer nach meinem Vater gefragt wurde von allen Seiten, mir immer Väter neu zu erdenken, zu erdichten. Ja, ich musste mir ein Leben selbst erdichten, weil diese zweite Hälfte fehlte. Und so bin ich gleichzeitig ins Lügen und ins Dichten geraten."

Als Elisabeth Rühmkorf ihren Eltern und Geschwistern die Wahrheit über ihren Sohn Peter sagte, half es auch nicht, dass sie gleichzeitig Karl Barth als Paten präsentieren konnte.

"Mein Großvater war entsetzt und sagte: Das Kind kommt mir nicht ins Haus. Dann hat aber meine Großmutter mich aber mal betrachtet und fand mich sehr niedlich und hat mich dann meinem Großvater irgendwann vorgestellt, und der fand immer mehr Gefallen an mir. Aus einem Grunde: Und nun kommen wir zu der seltsamen Gnade Gottes, welche höher ist als alle Vernunft. Im Ersten Weltkrieg waren seine beiden Söhne gefallen. Beide Söhne, Onkel Gustav und Onkel Ernst, ganz kurz nacheinander waren ihm weg geschossen.

Und es gibt ergreifende Szenen in Lebenserinnerungen meiner Mutter, wo sie so etwas, wie ihr Vater weinend, schreiend durch das Haus lief, sich den Talar zerriss, dass das Geschlecht, dieser Zweig der Familie praktisch abgeschnitten war. Es gab keine Fortführung. Und nun kam ich, Kind eines Fehltritts, in Haus, und nur kraft dieses Fehltritts gab es einen Enkel, der den Namen Rühmkorf weiterführen konnte. Das ist doch an sich eine sehr erbauliche Geschichte.""

Vieles war keineswegs erbaulich, weder die Jugend in der Nazizeit, noch die seelischen Lasten, die Peter Rühmkorf als jungen Mann in eine Angst- und Zwangsneurose schickten.

"Meine Mutter war eine streitbare Christin, ganz eigenartig. Aber sie hat natürlich auch viel Schuldgefühle auf mich gewälzt, dass ich mein Leben lang ewig unter Schuldsteinen geächzt habe. Eigentlich habe ich die Sünde meiner Mutter abtragen müssen in Form von Schuldgefühlen. Denn meine Mutter hatte aus dem einen Mal keinen Anlass zu weiteren Schuldgefühlen, weil sie dann die Moral an die Stelle der Schuld gesetzt hat.

Und leider hat mich eben auch von diesem Christlich-Moralischen ein furchtbarer Strahl mit erwischt. Aber, das große leuchtende Aber, da die Kunst nun einmal aus Komplexen, Ressentiments und sonstigem Dreck erwächst, ist das genau die richtige Disposition, um daraus was zu machen."

Das Dunkle und das Helle, der Tod und die Liebe, Angst und Lebensfreude - Peter Rühmkorfs Gedichte sprechen von der besonderen Spannung, die durch die Widersprüche des Lebens, die Widersprüche seines Lebens entstehen. Der Dichter sucht nach Balance. Beispielhaft dafür ist sein Gedicht "Hochseil"

Hochseil
"Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem I d i v i d u u m
aus nichts als Worten träumend.

Was uns bewegt – warum? Wozu? –
den Teppich zu verlassen?
Ein nie erforschtes Who-is-who
im Sturzflug zu erfassen.

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes/Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier,
vierfüßig – v i e r z i g z ä h i g –
Ganz unten am Boden gelten wir
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine …
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine."


Peter Rühmkorf bezeichnete sich als "gefasster Agnostiker". Aber als Dichter, der in seiner Generation einzigartig und überragend dasteht, hat er dennoch auf Unsterblichkeit setzen dürfen.

Frommer Wunsch
"Wünsch mir im Himmel einen Platz
(auch wenn die Balken brächen)
bei Bellmann, Benn und Ringelnatz
und wünschte, dass sie e i n e n Satz
in e i n e m Atem sprächen:
nimm Platz!"



Quellenangaben:

O-Töne mit Musik:

2. O-Ton (Peter Rühmkorf, Michael Naura, Wolfgang Schlüter)
Mitschnitt eines öffentlichen Auftritts aus dem Peter-Rühmkorf-Archiv

8. O-Ton (Peter Rühmkorf, Michael Naura, Wolfgang Schlüter) aus
Dokumentation der Veranstaltung "Literaturwerkstatt Salzau", Edition Salzau & Steidl 1993


Gedichtlesungen:

"Bleib erschütterbar und widersteh"
29 Zeilen

"Variation auf ‚Abendlied’ von Matthias Claudius".
35 Zeilen

"Hochseil"
20 Zeilen
(alle drei aus: Peter Rühmkorf: Gedichte, Werke 1; Rowohlt Verlag, 2000

"Frommer Wunsch"
6 Zeilen
aus: Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte; Rowohlt Verlag, 1999