Ein Gottesmann in hohen und niedrigen Gefilden

Ein Pfarrer schreibt Briefe an seine Frau, die ihn verlassen hat: bettelnd, schwadronierend oder drohend. Mit diesem 1963 erschienenen, jetzt neu aufgelegten Buch erweist sich Hélène Bessette als Vorläuferin und Geistesverwandte des "nouveau roman".
Hélène Bessette (1918-2000) hat von 1952 bis 1973 im renommierten Pariser Verlag Gallimard 14 Bücher herausgebracht und zum Teil hymnische Kritiken von einflussreichen Kollegen erhalten. Als der Verlag nichts mehr von ihr veröffentlichen wollte, verstummte sie für die Öffentlichkeit und starb völlig vereinsamt und vergessen in Le Mans. In den letzten Jahren setzte eine Renaissance dieser Autorin in Frankreich ein, und der kleine, neugegründete Secession-Verlag in Zürich bringt jetzt bereits das zweite Buch von ihr auf deutsch heraus, das im Original 1963 erschienen ist.

Auch "Ist Ihnen nicht kalt" zeigt alle Attribute, die Bessette als Vorläuferin und Geistesverwandte des nouveau roman zugeschrieben wurden: Sie hat eine rhythmisch gegliederte, knappe und spröde Sprache, die keine Handlung erzählt, sondern fragmentierte Passagen aneinanderreiht. Hier sind es Briefe eines 30-jährigen Pfarrers, der von seiner Frau nach zehn Jahren verlassen worden ist und ihr nun über mehrere Monate hinweg schreibt. Die Antworten der Frau, die es offenkundig gibt, werden im Text ausgespart. Es ist also der Monolog eines Einzelnen, der immer wieder neu ansetzt, abrupt die Gefühlslagen wechselt und von einem hohen Ton gelegentlich auch in niedrigere Gefilde ausrutscht. Als Pfarrer scheint er darauf angewiesen, dass die Frau zu ihm zurückkommt, wegen seines Ansehens in der Gemeinde, aber der Leser erfährt auch, dass er in großen Geldnöten steckt und eine Geliebte hat, die er am liebsten heiraten möchte.

Es gibt viele Brüche in diesem Monolog, viele Auslassungen und eine einzige große, widersprüchliche Selbstdarstellung. Das Entscheidende ist, dass der Briefeschreiber sich im Laufe der Zeit selbst entlarvt, ohne es zu merken. Durch die Leerstellen hindurch wird deshalb erahnbar, warum seine Frau ihn verlassen hat. Die großen Worte, die er anfangs anschlägt, wie Liebe und Gnade sowie die hehren Ideale der Kirche, die er vertritt, kehren sich gegen ihn. Er ist eigennützig, versucht aus allem, für sich einen Vorteil herauszuschlagen. All seine Tonlagen, ob bettelnd, analysierend, pathetisch schwadronierend oder drohend, zeigen nur eins: Er nimmt immer nur Posen ein.

Die Sprache ist zwar geprägt von Wendungen und Floskeln aus der Berufswelt des Pfarrers, hat also oft etwas Scheinheilig-Überhöhtes, dennoch wirkt sie erstaunlich modern. Der Text erscheint durch die Verknappungen und Aussparungen fast zeitlos. Der Briefeschreiber benutzt selten ganze Sätze, sondern er ergeht sich in Anrufungen, in elliptischen Formen, und oft stehen einzelne Substantive, Verben oder Adjekte einzeln da, durch Punkte getrennt – ein Stakkato, das poetisch-theatralisch erscheint.

Hélène Bessette agierte zeit ihres Lebens abseits des Literaturbetriebs, sie hat eine eigene Sprache entwickelt, die sich von Zitaten, von direkter Rede, von unmittelbaren Sprechweisen nährt und in der Konstruktion etwas stark Artifizielles hat. Sie verarbeitet zwar eigene autobiografische Erfahrungen – auch sie hat ihren Mann, der ein Pfarrer war, verlassen – aber durch die Stilisierung und die Verallgemeinerung männlicher und kirchlich/gesellschaftlich legitimierter Verhaltensweisen entsteht etwas Neues.

Besprochen von Helmut Böttiger

Hélène Bessette: Ist Ihnen nicht kalt. Roman
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag, Zürich 2011
178 Seiten, 21,95 Euro
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