Ein Gespensterreich
Raunende Gestalten, die sich als Tote entpuppen, geistern durch den Roman von Juan Rulfo. „Pedro Páramo“ ist ein Mosaik aus Monologen, Szenen und verschiedenen Ebenen. Das schon 1958 erschienene Werk ist nun neu übersetzt herausgekommen, knapper geworden und bleibt dennoch eine ewig anrührende Geschichte.
Als Schriftsteller war der Mann ein Phänomen: Juan Rulfo, gestorben 1986 in Mexiko-Stadt. Zwei schlanke Prosawerke hat er veröffentlicht, 1953 den Erzählband „Der Llano in Flammen“, zwei Jahre später den Roman „Pedro Páramo“. Dann schwieg der Dichter.
Doch mit jenen zwei Büchern ging er ein in die Literaturgeschichte – als kühner Erneuerer und Wegbereiter des „magischen Realismus“. Gabriel García Márquez bekannte, Rulfos Texte hätten ihn erschüttert – den Roman kannte er „vorwärts und rückwärts auswendig“ –, diese insgesamt dreihundert Seiten, von denen der Kolumbianer glaubt, „dass sie überdauern werden wie die, welche wir von Sophokles kennen“.
Tod und Gewalt sind die Konstanten des schmalen Werks – Spiegelung einer Welt in Aufruhr, wie der Autor sie als Kind erfuhr. Rulfo kam 1917 oder 1918 zur Welt, gegen Ende der mexikanischen Revolution. Der Vater, Grundbesitzer in der Provinz, wurde 1926 ermordet, auch andere Verwandte starben während blutiger Unruhen. In Rulfos Texten spürt man noch das Echo der sinnleeren Bruderkriege. Mexiko zeigt er als Land ohne Hoffnung: dürr, verwahrlost, menschenleer.
„Pedro Páramo“ ist die Geschichte eines despotischen Kaziken und des von ihm ruinierten Dorfes Comala. Ein junger Mann kommt von weither in das Kaff, Juan Preciado. Die Mutter hat ihn geschickt, als sie im Sterben lag, er solle vom Vater Pedro Páramo sein Erbteil fordern. Das Dorf, von der Mutter als lieblich und blühend beschrieben, erweist sich als Schattenort, Gespensterreich. Die Menschen, blasse Gestalten, raunen nur. Schockiert bemerkt der Leser irgendwann: Die raunenden Gestalten sind alle tot, tot wie Juan selbst. Er liegt im Grab und spricht mit einer toten Frau an seiner Seite.
Die Geschichte, am Anfang linear aufgebaut, zerfällt plötzlich in rauhe Bruchstücke, und genauso ergeht es dem Titelhelden mit dem sprechenden Namen. „Pedro“ erinnert an „Piedra“, Stein. Und „Páramo“ ist das öde Hochland. Pedro Páramo, so heißt es am Ende des Buchs, „schlug hart auf die Erde auf und brach auseinander wie ein Haufen Steine“.
Polyphon ist der Roman, ein Mosaik aus Monologen, Szenen, Ebenen, die Sprache lakonisch, dem Schweigen nah. Mit wenig Worten lässt sich Ungeheuerliches sagen. Und die Zeit steht still in Comala, alles geschieht gleichzeitig. Mit diesen narrativen Tricks war Rulfo seiner Zeit voraus.
Eine deutsche Fassung von „Pedro Páramo“ erschien bereits kurz nach dem Erstdruck, 1958; die Arbeit von Mariana Frenk, einer Freundin des Dichters, war die früheste Übersetzung des Romans überhaupt. Fünfzig Jahre später gibt es nun eine weitere Übertragung. Sie basiert auf einer kritischen Ausgabe des Textes (Madrid 2005), einer Ausgabe mit allen Änderungen, die der Autor im Verlauf der Zeit an der Ur-Publikation vorgenommen hatte – Streichungen, Ergänzungen, Korrekturen.
Passagen wurden schlanker, Figuren bekamen andere Namen. Die neue deutsche Version von Dagmar Ploetz orientiert sich obendrein noch stärker am Original. Man übersetze heute halt etwas genauer als in den Fünfzigern, schreibt Frau Ploetz in einer Mail. „Genauer meint in diesem Fall auch knapper“, selbst auf Kosten der Gefälligkeit. Jedoch: „Im Großen und Ganzen unterscheidet sich die neue Übersetzung nicht so wesentlich von der alten, dass man von einer neuen Lesart des Romans sprechen könnte. Ich selbst war über die vielen Übereinstimmungen überrascht.“
Im direkten Vergleich werden die feinen Unterschiede spürbar. Doch wichtiger als diese Unterschiede ist: Das Werk, ein Meilenstein moderner Erzählkunst, erreicht neue Leser. Die ewig anrührende Geschichte beginnt von vorn:
„Ich bin nach Comala gekommen, weil mir gesagt wurde, dass hier mein Vater lebt, ein gewisser Pedro Páramo.“
Rezenseniert von Uwe Stolzmann
Juan Rulfo: Pedro Páramo
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Nachwort von Juan Rulfo und Gabriel García Márquez
Roman, Carl Hanser Verlag, München 2008
176 Seiten, 17, 90 Euro
Doch mit jenen zwei Büchern ging er ein in die Literaturgeschichte – als kühner Erneuerer und Wegbereiter des „magischen Realismus“. Gabriel García Márquez bekannte, Rulfos Texte hätten ihn erschüttert – den Roman kannte er „vorwärts und rückwärts auswendig“ –, diese insgesamt dreihundert Seiten, von denen der Kolumbianer glaubt, „dass sie überdauern werden wie die, welche wir von Sophokles kennen“.
Tod und Gewalt sind die Konstanten des schmalen Werks – Spiegelung einer Welt in Aufruhr, wie der Autor sie als Kind erfuhr. Rulfo kam 1917 oder 1918 zur Welt, gegen Ende der mexikanischen Revolution. Der Vater, Grundbesitzer in der Provinz, wurde 1926 ermordet, auch andere Verwandte starben während blutiger Unruhen. In Rulfos Texten spürt man noch das Echo der sinnleeren Bruderkriege. Mexiko zeigt er als Land ohne Hoffnung: dürr, verwahrlost, menschenleer.
„Pedro Páramo“ ist die Geschichte eines despotischen Kaziken und des von ihm ruinierten Dorfes Comala. Ein junger Mann kommt von weither in das Kaff, Juan Preciado. Die Mutter hat ihn geschickt, als sie im Sterben lag, er solle vom Vater Pedro Páramo sein Erbteil fordern. Das Dorf, von der Mutter als lieblich und blühend beschrieben, erweist sich als Schattenort, Gespensterreich. Die Menschen, blasse Gestalten, raunen nur. Schockiert bemerkt der Leser irgendwann: Die raunenden Gestalten sind alle tot, tot wie Juan selbst. Er liegt im Grab und spricht mit einer toten Frau an seiner Seite.
Die Geschichte, am Anfang linear aufgebaut, zerfällt plötzlich in rauhe Bruchstücke, und genauso ergeht es dem Titelhelden mit dem sprechenden Namen. „Pedro“ erinnert an „Piedra“, Stein. Und „Páramo“ ist das öde Hochland. Pedro Páramo, so heißt es am Ende des Buchs, „schlug hart auf die Erde auf und brach auseinander wie ein Haufen Steine“.
Polyphon ist der Roman, ein Mosaik aus Monologen, Szenen, Ebenen, die Sprache lakonisch, dem Schweigen nah. Mit wenig Worten lässt sich Ungeheuerliches sagen. Und die Zeit steht still in Comala, alles geschieht gleichzeitig. Mit diesen narrativen Tricks war Rulfo seiner Zeit voraus.
Eine deutsche Fassung von „Pedro Páramo“ erschien bereits kurz nach dem Erstdruck, 1958; die Arbeit von Mariana Frenk, einer Freundin des Dichters, war die früheste Übersetzung des Romans überhaupt. Fünfzig Jahre später gibt es nun eine weitere Übertragung. Sie basiert auf einer kritischen Ausgabe des Textes (Madrid 2005), einer Ausgabe mit allen Änderungen, die der Autor im Verlauf der Zeit an der Ur-Publikation vorgenommen hatte – Streichungen, Ergänzungen, Korrekturen.
Passagen wurden schlanker, Figuren bekamen andere Namen. Die neue deutsche Version von Dagmar Ploetz orientiert sich obendrein noch stärker am Original. Man übersetze heute halt etwas genauer als in den Fünfzigern, schreibt Frau Ploetz in einer Mail. „Genauer meint in diesem Fall auch knapper“, selbst auf Kosten der Gefälligkeit. Jedoch: „Im Großen und Ganzen unterscheidet sich die neue Übersetzung nicht so wesentlich von der alten, dass man von einer neuen Lesart des Romans sprechen könnte. Ich selbst war über die vielen Übereinstimmungen überrascht.“
Im direkten Vergleich werden die feinen Unterschiede spürbar. Doch wichtiger als diese Unterschiede ist: Das Werk, ein Meilenstein moderner Erzählkunst, erreicht neue Leser. Die ewig anrührende Geschichte beginnt von vorn:
„Ich bin nach Comala gekommen, weil mir gesagt wurde, dass hier mein Vater lebt, ein gewisser Pedro Páramo.“
Rezenseniert von Uwe Stolzmann
Juan Rulfo: Pedro Páramo
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Nachwort von Juan Rulfo und Gabriel García Márquez
Roman, Carl Hanser Verlag, München 2008
176 Seiten, 17, 90 Euro