Ein gesellschaftskritischer Chor

Von Gerhard Richter · 06.11.2009
1978 hat sich in Ulm der Gewerkschaftschor 1. Mai gegründet und sich in den letzten 30 Jahren zu dem Ensemble Kontrapunkt entwickelt. Der Chor versteht sich als Gegenstimme – gesellschaftskritisch, unterhaltsam und bewegend.
Carl-Josef Scheck: "Wir versuchen Nachdenklichkeiten hervorzurufen, aber die gleichzeitig ein bisschen unterhalten und Spaß machen."

Carl-Josef Scheck: "Was wir versuchen zu verhindern, ist, dass wir mit erhobenem Zeigefinger nur dastehen und das ist halt die Kunst, ein bisschen was anderes zu finden."

Carl-Josef Scheck ist Hauptschullehrer für Musik. Tagsüber unterrichtet er seine Schüler im Musikraum der Schafferschule, Mittwochabends sitzen vor ihm auf den stabilen Stahlrohrstühlen 31 Frauen und 14 Männer und üben politische Programme ein. Das jüngste heißt "Alles satt".

Dagmar Stark: "Das ist ein Programm, das sich um die Welternährungslage dreht, so ein bisschen mit Globalisierung, und so ein bisschen, wo werden unsere Nahrungsmittel erzeugt und wer isst was, und wer hat überhaupt was und wer hat nix."

Dagmar Stark ist die Vorsitzende von Kontrapunkt. Die 45-jährige Beamtin hat im Sopran schon die verschiedensten Programme mitgesungen. Zum 40. Jahrestag der BRD, zu den 100. Geburtstagen von Brecht und Eisler, zum Thema Mann/Frau.

Angefangen hat der Chor vor 30 Jahren. Alles Gewerkschafter. Damals unter dem Namen Arbeiterchor 1. Mai Ulm/Neu-Ulm. 1979 die erste urkundliche Erwähnung, auf einem Flugblatt des DGB.

Ingrid Schöntag: "Wir haben etwa so mit acht bis zehn Personen angefangen, dann hat man nicht nur auf den ersten Mai hingearbeitet, sondern sich dazwischen getroffen."

Ingrid Schöntag war damals Biologie-Laborantin. Sie und Karl Scherer haben die Anfänge miterlebt. Arbeiterlieder aus der Weimarer Republik.

Karl Scherer: "Das war so die Tradition. An die haben wir uns erinnert und angeknüpft."

Ingrid Schöntag: "Dann kam irgendwann der Anspruch, könnt’ mer net mal irgendwas mehrstimmig versuchen, und …"

Karl Scherer: "Dann haben wir den Carl-Josef Scheck gefunden, der hat sich erbarmt mit uns zu proben, dann war's auch mehrstimmig und dann hat sich der Chor eigentlich richtig entwickeln können."

250 Konzerte in 30 Jahren, das Repertoire füllt zwei dicke Ordner. Mittlerweile sind nicht nur Gewerkschafter mit dabei, es gibt Unternehmer, Ärzte, viele Logopädinnen, Rentner, sogar ein Bundeswehr-Oberst hat mitgesungen.

Ingrid Schöntag: "Das was alle verbindet, isch scho so a bissle des gesellschaftspolitische Engagement und gleichzeitig aber auch diese Vielfalt der Musikarten."

Senzenina darauf rezitativ: "Was haben wir getan? Unsere Sünde ist es schwarz zu sein. Unsere Sünde ist die Wahrheit. Gott, lass Afrika zurückkehren."

Afrikanische Klagegesänge, südamerikanische Freiheitsballaden, Spottverse aus dem Mittelalter, Swing, Pop, Partisanenlieder. Alles auswendig, alles ohne Noten.

Dagmar Stark: "Weil wir schon gemerkt haben, wenn man jetzt ein Lied singt, wo man doch ein bisschen einen Inhalt oder eine Botschaft transportieren möchte ins Publikum, das geht eigentlich nicht, wenn man da so hinter seinen Notenblättern oder so Notenordnern steht."

Ein Standpunkt ist klar: Gegen Nazis. Kontrapunkt singt die Lieder der damaligen Opfer. Mit dem polnischen "Wiegenlied des Waldes" reisen die engagierten Schwaben zur offiziellen Gedenkfeier im ehemaligen KZ Mauthausen.

Carl-Josef Scheck: "Und haben da ein beeindruckendes Erlebnis gehabt mit polnischen Häftlingen als alten Männern, denen die Tränen runter gelaufen sind, als wir ihr Lieblingspartisanenlied gesungen haben."

Das größte Publikum hatte Kontrapunkt auf dem Ulmer Münsterplatz. Wegen einer NPD-Veranstaltung war die alljährliche Maikundgebung zu einer riesigen Gegendemo angewachsen: Konstantin Wecker kam und Kontrapunkt sang als dessen Vorband vor 10.000 Zuhörern. Anita Rau erinnert sich:

"Ja gigantisch super. Nachdem ich jetzt auch schon 25 Jahre Vormaifeiern erlebt habe, wo wir halt mit 30 Sängerinnen und Sängern da waren und ein Gastredner der eine Stunde gesprochen hat und Zuhörer vielleicht auch 30 da waren, war das natürlich ein sehr erhebendes Gefühl."


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.