Ein gesellschaftlicher Trümmerhaufen
09.08.2007
Teodora Dimova erzählt in "Die Mütter" von sieben Jugendlichen, die gemeinsam ihre Lehrerin töten. In ihrem Roman zeichnet die Bulgarin ein Sittengemälde ihres Landes und berichtet über die Erosion von Werten und den Zerfall der Familien.
Teodora Dimova ist eine der wichtigsten jüngeren Autorinnen Bulgariens. Sie ist 1960 in Sofia geboren, hat Anglistik studiert, einige Theaterstücke geschrieben und arbeitet an der Abteilung für Schauspiel im nationalen bulgarischen Radio. Ein großer Erfolg war ihr Theaterstück "Die Unschuldigen", das sich dem Thema der Gewalt und der Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen widmet. Mit "Die Mütter" hat Dimova den selben Stoff nun als Roman verarbeitet und dafür in Österreich den "Großen Preis für osteuropäische Literatur" erhalten.
Ausgangspunkt ihres Interesses war ein Verbrechen, das die bulgarische Gesellschaft verstörte. Zwei 14-jährige töteten eine Mitschülerin, aus Lust am Quälen oder auch nur aus Langeweile. (Der Fall ist durchaus mit dem Mord an einem Mitschüler im brandenburgischen Potzlow zu vergleichen, über den Andreas Veiel einen eindrucksvollen Dokumentarfilm gedreht hat.) Die bulgarische Tat ereignete sich allerdings nicht in der Provinz, sondern in einem eher besseren Viertel der Hauptstadt Sofia. Die beiden Mörderinnen kamen aus ganz normalen Familien, also aus dem Zentrum der Gesellschaft.
Das ist für Teodora Dimova die erzählerische Ausgangslage. Sie geht mit dem Stoff jedoch sehr frei um. In sieben Kapiteln erzählt sie die Geschichte von sieben Jugendlichen einer Schulklasse, die schließlich gemeinsam ihre Lehrerin töten. All diese Kinder sind 1990 geboren, im Jahr nach der Wende, als "die Freiheit gekommen ist". Da wuchs eine Generation auf, die früh allein gelassen wurde, weil die Eltern mit dem täglichen Kampf ums Dasein beschäftigt waren. Dimova erzählt von einem Mädchen, dessen Mutter als Gastarbeiterin in Zypern lebt, während der Vater das Geld, das sie von dort schickt, mit seinen Freunden versäuft. Ein anderer Vater ist so heftiger Fußballfan, dass er in dieser Leidenschaft untergeht und darüber auch seine Frau verliert. Alle Familien zerfallen. Eine Großmutter erleidet einen Schlaganfall und muss von der Enkelin gepflegt werden, während die Mutter vor der Glotze hockt. Ein anderes Paar, zwei Ärzte, lebt getrennt und hat aus praktischen Erwägungen auch das Zwillingspaar aufgeteilt, das doch ohne einander nicht leben kann. Nicht nur diese Sequenz erinnert an die kristallklare Prosa von Agota Kristof. All diese Geschichten handeln von Überforderung und Einsamkeit, von Not und elterlichem Versagen und von der Tapferkeit der Kinder, die sich zumeist als die Stärkeren erweisen.
Dimova erzählt einfühlsam, in einem leisen, poetischen Ton und in mitleidloser Härte. Handlungsrahmen ist für alle sieben Kapitel der Nachmittag vor dem Finale der letzten Fußballweltmeisterschaft als einem Ereignis, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. In diesem Vakuum kann dann auch das finale Verbrechen geschehen. Es folgt jeweils eine kurze Sequenz, die als Verhör gebaut ist, wie bei der Polizei oder einem Psychologen. Behandelt werden darin aber Trauminhalte, in denen die Kinder ihr jeweiliges Verhältnis zu ihrer Lehrerin Javora beschreiben. Alle sieben Schüler verehren Javora wie eine Heilige. Javora ist eine messianische Figur, die all das bietet, was das Leben verweigert: Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft und Liebe. Da sie es ist, die in einer orgiastischen Szene erschlagen wird, bekommt der Roman eine heilsgeschichtliche Dimension. Doch Erlösung ist durch diesen Opfertod nicht zu erwarten. Das Heilige hat keinen Platz in der Gesellschaft.
"Die Mütter" ist ein verstörendes, irritierendes Buch, in dem sich viel über osteuropäische Befindlichkeit lernen lässt. Es zeigt in aller Härte die Amoral der neuen bulgarischen Gesellschaft, in der alle Gewissheiten umgekrempelt werden. Weil die Arbeit keinen Wert mehr hat und niemand von seinem Lohn leben kann, gedeihen Korruption, Lüge und Kriminalität. Wie soll man in so einem Land seine Kinder erziehen, fragt Dimova: Wer will, dass sie erfolgreich sind, muss sie auf Lüge und Betrug vorbereiten. Dagegen stehen eine tiefe Religiosität und ein pathetischer Glaube an das Wort, wie man sie in westlicher Literatur kaum noch finden kann. Das gibt dem Roman seine vibrierende Ernsthaftigkeit und eine Intensität, die unter die Haut geht.
Rezensiert von Jörg Magenau
Teodora Dimova: Die Mütter
Roman
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
Wieser Verlag, Klagenfurt (erschienen in der zweisprachigen Reihe EditionZwei, Bulgarisch/Deutsch)
490 Seiten, 14,90 Euro
Ausgangspunkt ihres Interesses war ein Verbrechen, das die bulgarische Gesellschaft verstörte. Zwei 14-jährige töteten eine Mitschülerin, aus Lust am Quälen oder auch nur aus Langeweile. (Der Fall ist durchaus mit dem Mord an einem Mitschüler im brandenburgischen Potzlow zu vergleichen, über den Andreas Veiel einen eindrucksvollen Dokumentarfilm gedreht hat.) Die bulgarische Tat ereignete sich allerdings nicht in der Provinz, sondern in einem eher besseren Viertel der Hauptstadt Sofia. Die beiden Mörderinnen kamen aus ganz normalen Familien, also aus dem Zentrum der Gesellschaft.
Das ist für Teodora Dimova die erzählerische Ausgangslage. Sie geht mit dem Stoff jedoch sehr frei um. In sieben Kapiteln erzählt sie die Geschichte von sieben Jugendlichen einer Schulklasse, die schließlich gemeinsam ihre Lehrerin töten. All diese Kinder sind 1990 geboren, im Jahr nach der Wende, als "die Freiheit gekommen ist". Da wuchs eine Generation auf, die früh allein gelassen wurde, weil die Eltern mit dem täglichen Kampf ums Dasein beschäftigt waren. Dimova erzählt von einem Mädchen, dessen Mutter als Gastarbeiterin in Zypern lebt, während der Vater das Geld, das sie von dort schickt, mit seinen Freunden versäuft. Ein anderer Vater ist so heftiger Fußballfan, dass er in dieser Leidenschaft untergeht und darüber auch seine Frau verliert. Alle Familien zerfallen. Eine Großmutter erleidet einen Schlaganfall und muss von der Enkelin gepflegt werden, während die Mutter vor der Glotze hockt. Ein anderes Paar, zwei Ärzte, lebt getrennt und hat aus praktischen Erwägungen auch das Zwillingspaar aufgeteilt, das doch ohne einander nicht leben kann. Nicht nur diese Sequenz erinnert an die kristallklare Prosa von Agota Kristof. All diese Geschichten handeln von Überforderung und Einsamkeit, von Not und elterlichem Versagen und von der Tapferkeit der Kinder, die sich zumeist als die Stärkeren erweisen.
Dimova erzählt einfühlsam, in einem leisen, poetischen Ton und in mitleidloser Härte. Handlungsrahmen ist für alle sieben Kapitel der Nachmittag vor dem Finale der letzten Fußballweltmeisterschaft als einem Ereignis, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. In diesem Vakuum kann dann auch das finale Verbrechen geschehen. Es folgt jeweils eine kurze Sequenz, die als Verhör gebaut ist, wie bei der Polizei oder einem Psychologen. Behandelt werden darin aber Trauminhalte, in denen die Kinder ihr jeweiliges Verhältnis zu ihrer Lehrerin Javora beschreiben. Alle sieben Schüler verehren Javora wie eine Heilige. Javora ist eine messianische Figur, die all das bietet, was das Leben verweigert: Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft und Liebe. Da sie es ist, die in einer orgiastischen Szene erschlagen wird, bekommt der Roman eine heilsgeschichtliche Dimension. Doch Erlösung ist durch diesen Opfertod nicht zu erwarten. Das Heilige hat keinen Platz in der Gesellschaft.
"Die Mütter" ist ein verstörendes, irritierendes Buch, in dem sich viel über osteuropäische Befindlichkeit lernen lässt. Es zeigt in aller Härte die Amoral der neuen bulgarischen Gesellschaft, in der alle Gewissheiten umgekrempelt werden. Weil die Arbeit keinen Wert mehr hat und niemand von seinem Lohn leben kann, gedeihen Korruption, Lüge und Kriminalität. Wie soll man in so einem Land seine Kinder erziehen, fragt Dimova: Wer will, dass sie erfolgreich sind, muss sie auf Lüge und Betrug vorbereiten. Dagegen stehen eine tiefe Religiosität und ein pathetischer Glaube an das Wort, wie man sie in westlicher Literatur kaum noch finden kann. Das gibt dem Roman seine vibrierende Ernsthaftigkeit und eine Intensität, die unter die Haut geht.
Rezensiert von Jörg Magenau
Teodora Dimova: Die Mütter
Roman
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
Wieser Verlag, Klagenfurt (erschienen in der zweisprachigen Reihe EditionZwei, Bulgarisch/Deutsch)
490 Seiten, 14,90 Euro